Rezension über:

Hans Rothe (Bearb.): Hermann von Boyen und die polnische Frage. Denkschriften von 1794 bis 1846, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, IX + 584 S., ISBN 978-3-412-20553-9, EUR 69,90
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Rezension von:
Justyna A. Turkowska
Herder-Institut, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Justyna A. Turkowska: Rezension von: Hans Rothe (Bearb.): Hermann von Boyen und die polnische Frage. Denkschriften von 1794 bis 1846, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 11 [15.11.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/11/20774.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Hans Rothe (Bearb.): Hermann von Boyen und die polnische Frage

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Das vorliegende Buch würdigt einige in Vergessenheit geratene, bedeutende Dokumente der preußisch-deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts - die Denkschriften Hermann von Boyens. Boyen war 1814-1819 und 1841-1847 preußischer Kriegsminister - in Zeiten revolutionärer Umbrüche, liberaler Forderungen und staatlicher Umwälzungen - und einer der Ideengeber und Befürworter der preußischen Militärreformen (der Landwehrordnung, der neuen Heeresverfassung und des Wehrgesetzes). In Boyens Kommentaren und politischen Statements von ganz unterschiedlicher Länge spiegeln sich zum einen die politischen Debatten seiner Zeit wider, zum anderen bringen sie seine in eine komplexe Staats- und Geschichtsauffassung mündende Weltanschauung zum Ausdruck, die bei der Rezeption seiner Gedanken bis jetzt kaum beachtet und weiterverfolgt worden ist. Hans Rothe versucht mit der von ihm bearbeiteten Quellenausgabe eben diese Lücke zu schließen und in seiner Einleitung den Schwerpunkt der Analyse auf die politische Gesinnung Boyens zu legen. Die "polnische Frage" erfährt dabei besondere Aufmerksamkeit, gilt sie doch bei Boyen als eine der Schlüsselüberlegungen, aus der sich viele weitere, unter anderem jene über Revolution, staatliche Souveränität und Unabhängigkeit, über historische Bestimmung sowie Staats- und Privatmoral, ableiten lassen beziehungsweise mit ihr sehr stark verflochten sind.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile: eine ausführliche Besprechung und Interpretation der Quellen, anhand derer Boyens Staats- und Geschichtsauffassung herausgearbeitet wird, und eine Edition von teilweise bisher unveröffentlichten Denkschriften. Insgesamt sind 21 Schriftstücke abgedruckt, von denen die zwei wichtigsten - die Polen-Denkschriften von 1830 und 1831 (Nr. 14 und 15), deren Herausgabe den Anlass für die Entstehung des Buches bildete - hier zum ersten Mal vollständig transkribiert und veröffentlicht werden. Neben Abhandlungen zur preußisch-polnischen Geschichte finden sich in dem Werk auch weiterführende Schriften Boyens, die unter anderem den Beschlüssen von Karlsbad (Nr. 7), der inneren Lage des Staates (Nr. 8) oder dem Sinngehalt des menschlichen Lebens und der Weltordnung (Nr. 12) gewidmet sind. Diese thematische Dichte macht es erst möglich, die Polen-Denkschriften in einem breiteren Kontext zu analysieren. Diese Analyse erfolgt durch Rothe allerdings nur fragmentarisch. Unkommentiert bleibt zum Beispiel die Tatsache, dass die ersten drei, aus den Jahren 1794-1795 stammenden Schriften Boyens (zu der politischen Rolle Polens und zum Umgang Preußens mit den durch die dritte Teilung Polens neu hinzugewonnenen Untertanen) in den 1890er Jahren in der als Brennpunkt der deutsch-polnischen Auseinandersetzung wahrgenommenen Provinz Posen veröffentlicht wurden. Gerade im Hinblick auf diese Rezeption und die von Rothe stets betonte Aktualität der Gedanken Boyens wäre es von Interesse gewesen, einen Schritt weiter zu gehen und nicht nur auf die früheren Abdrucke hinzuweisen, sondern deren Zielsetzung stärker zu hinterfragen und zu kontextualisieren.

Die einleitende Besprechung der Quellen folgt einem chronologischen Aufbau. Die historischen Ereignisse und die politische Orientierung Boyens werden entlang seiner Biografie skizziert, was allerdings zu einem Spagat zwischen biografisch-historiografischen Ansprüchen und einer reinen Schriftenanalyse führt. Gerade für eine Publikation mit einem populärwissenschaftlichen Charakter wäre es von Vorteil gewesen, nur eines dieser Konzepte zu verfolgen. So bleibt der Leser sich selbst überlassen. Trotz der Bemühungen Rothes, die Entwicklung der politischen Grundbegriffe Boyens mit gesellschaftspolitischen Prozessen und dem sich verändernden politischen Verhältnis zwischen Preußen und Polen zu verzahnen, gewinnt der Leser kaum tiefer gehende Einblicke, weder in die militärischen und politischen Milieus des von Boyen mit geprägten Zeitraums noch in die historischen Ereignisse (unter anderem die polnischen Aufstände, die Napoleonischen Kriege, die Revolution von 1846), die als Auslöser für den Gesinnungswandel Boyens angesehen werden können. Dessen Einflussbereiche und politische Relevanz bleiben somit unkenntlich. Dabei ist Boyens Gesinnungswandel, blickt man auf seine politische Rolle zurück, von großer Signifikanz. Von einer liberalen, an die Reformbewegung von 1807 angelehnten Auffassung des Staatsprinzips, das auf Selbstverwaltung und Legitimation von unten beruhe (171-174) und den Nationalcharakter und die "Geschichtserfahrung [als] notwendige Voraussetzung für die Fähigkeit zur politischen Entscheidung" (177) erachte, geht Boyen, geleitet von seinen Erfahrungen aus den frühen 1830er Jahren, zu einer deutlich konservativeren Sichtweise über: Der Pflichtgedanke und die Unterordnung des Individuums gegenüber dem Staat treten nun stärker hervor, die Geschichte wird zum Weltgericht, wobei laut Rothe Boyens "Hinwendung vom Lokalinteresse zur Souveränität des Zentralstaates" (216) schon seit 1823 sichtbar geworden sei. Dementsprechend verändert sich auch Boyens Einstellung gegenüber der "polnischen Frage": So wie er Ende des 18. Jahrhunderts noch für das Fortbestehen des polnischen Staates und später für die traditionsbewusste Einbeziehung der Polen in den preußisch-polnischen Provinzen plädiert, so interpretiert er nun den staatlichen Zerfall Polens als dessen Bestimmung (247-254) und spricht sich für die Beibehaltung des status quo aus.

Resümierend lässt sich sagen, dass der Zusammenhang zwischen der "polnischen Frage", deren Behandlung im Mittelpunkt steht, und der allgemeinen politischen Orientierung Boyens zwar ausführlich beschrieben wird, aber noch deutlicher hätte analysiert werden können, um so als ein roter Faden für die Analyse zu dienen. Rothe ist ohne Zweifel ein großer Kenner der Schriften Boyens sowie der Forschungsliteratur über Boyen. Dies tritt in der um eine gründliche Analyse bemühten Einleitung deutlich hervor, verleitet Rothe aber oft zu unnötigen Nacherzählungen und einer verzweigten Argumentation. "Der Leser mag sich aus von Boyens Schriften selber informieren und überzeugen, wie viele seiner Überlegungen nach der Revolution zu Staat, Recht und Gesetzgebung, zu Politik und Bildung, zu Nation, Deutschland und Europa in späterer Zeit des Jahrhunderts aktuell geblieben sind" (IX) - schreibt Rothe zum Auftakt, greift selbst aber in dieser Hinsicht einleitend zu stark vor.

Justyna A. Turkowska