Valeriy Zamulin: Demolishing the Myth. The Tank Battle at Prokhorovka, Kursk, July 1943: An Operational Narrative, Solihull: Helion & Company 2010, 630 S., 16 Farb-, 180 s/w-Abb., 16 Kt., ISBN 978-1-906033-89-7, GBP 45,00
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Am 5. Juli 1943 begann die deutsche Wehrmacht ihre letzte Sommeroffensive an der Ostfront, das Unternehmen "Zitadelle". Ziel dieser Operation war, den bei Orël, Kursk und Belgorod weit nach Westen in die deutsche Front hineinragenden "Kursker Bogen" abzuschnüren. Bekanntlich wurde daraus nichts. Bereits nach wenigen Tagen mussten die Deutschen ihre Angriffe auf Kursk einstellen, weil die Rote Armee bei Orël und im Donezbecken zu Gegenoffensiven antrat.
Nach sowjetischer Lesart waren allerdings nicht diese Gegenangriffe der Grund für die Einstellung des Unternehmens "Zitadelle". Die Entscheidung sei vielmehr am 12. Juli 1943 bei der kleinen Ortschaft Prochorovka (Prokhorovka) gefallen. Dort habe die sowjetische 5. Gardepanzerarmee in einer "Panzerbegegnungsschlacht" auf engstem Raum den deutschen Angriffsverbänden so schwere Verluste zugefügt, dass die Deutschen nicht mehr weiter hätten angreifen können. Dies sei der Wendepunkt der Schlacht bei Kursk gewesen - ein entscheidender sowjetischer Sieg!
Der Name Prochorovka wurde zum Mythos oder, wie es der britische Militärhistoriker Robin Cross formulierte, zur "Dampfwalze der russischen Militärsaga" ("steamroller of Russian military legend"). [1] Cross war einer der ersten, die diesen Mythos in Frage stellten. Bei der Untersuchung der deutschen Panzerverluste war ihm aufgefallen, dass diese ausgerechnet am 12. Juli 1943, dem Tag der vermeintlich entscheidenden deutschen Niederlage, geradezu erstaunlich gering waren. Im selben Jahr, in dem Cross' Buch erschien (1993), konnte der deutsche Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser als erster westlicher Historiker Gefechtsberichte der an der Schlacht beteiligten sowjetischen Verbände einsehen. Diese Dokumente belegen, dass den verhältnismäßig geringen deutschen Ausfällen enorme sowjetische Verluste gegenüberstanden und von einem Sieg der sowjetischen Truppen bei Prochorovka keine Rede sein kann. [2] Durch diese und weitere Forschungen ist mittlerweile klar, dass die sowjetischen Truppen am 12. Juli 1943 einen unnötigen und zudem schlecht organisierten Angriff durchführten, der am Verlauf der Schlacht bei Kursk nichts änderte, aber für die beteiligten sowjetischen Verbände mit einer katastrophalen Niederlage endete.
Vielen russischen Historikern fällt es jedoch nach wie vor schwer, alte Mythen zu Grabe zu tragen. Zu tief eingeprägt ist der Stolz auf die Leistungen des eigenen Volkes während des 'Großen Vaterländischen Krieges', und zwar nicht nur bei der Kriegsgeneration. Das zeigt auch die vorliegende Arbeit von Valerij Zamulin (Erstauflage 2005 in Moskau), in welcher der Autor den Mythos von Prochorovka wieder aufleben lässt und sogar die Diktion der sowjetischen Kriegsteilnehmer übernimmt. So spricht er durchgehend von "unseren Truppen", wenn er die Verbände der Roten Armee meint, und vom "Feind" (enemy), wenn er von der Wehrmacht schreibt. Immer wieder finden sich pathetische Aussagen über das Heldentum der Rotarmisten, die zum Teil an die Propaganda der Sowjet-Ära erinnern. Die sowjetischen Truppen stehen auch ganz im Mittelpunkt von Zamulins Darstellung. Deutsche Gefechtsberichte werden zwar ebenfalls (selektiv) zitiert, dienen jedoch meist nur der Illustration; ein wirklich kritischer Abgleich findet nicht statt. Aus den Gefechtsberichten der Roten Armee übernimmt der Autor hingegen fast alles als Realität - auch wenn es offensichtlich absurd ist.
Lässt sich Zamulins unkritische Wiedergabe der sowjetischen Berichte vielleicht noch mit Arglosigkeit gegenüber dem Wahrheitsgehalt der sowjetischen Akten erklären, so hört das Verständnis spätestens dann auf, wenn deutsche Quellen entstellt oder verfälscht werden. So beruht Zamulins Berechnung der deutschen Panzerverluste hauptsächlich auf einer vermeintlichen Zahlenangabe in einem Buch von Joachim Engelmann. [3] Angeblich habe das II. SS-Panzerkorps, das auf deutscher Seite die Hauptlast der Kämpfe trug, am Tag nach der Panzerschlacht nur noch 131 einsatzbereite Panzer und Sturmgeschütze besessen. (532) Doch diese Zahl findet sich in Engelmanns Buch gar nicht - weder auf der angegebenen Seite noch an anderer Stelle!
Ein weiteres Beispiel: Zamulin zitiert mit der Quellenangabe "Author's personal archive" den deutschen Soldaten Wilhelm Roes, zur Zeit der Schlacht bei Kursk SS-Sturmmann und Angehöriger der "Leibstandarte SS Adolf Hitler". Zamulin lässt Roes berichten, wie ein SS-Rottenführer seiner Division am 12. Juli 1943 vor seinen Augen zwei sowjetische Kriegsgefangene erschossen habe. (450) Auf eine Nachfrage zu der entsprechenden Passage schickte Roes dem Rezensenten umgehend eine eidesstattliche Erklärung, dass die Aussage in Zamulins Buch nicht der Wahrheit entspreche: Roes' Aussage sei entstellt worden; von einer Gefangenenerschießung bei Prochorovka habe er nie berichtet und sie habe auch nicht stattgefunden. Roes' Erklärung ist umso glaubhafter, als er sich selbst in seiner Autobiografie durchaus offen zu Kriegsverbrechen äußert. [4]
Zamulins Forschungsleistung besteht darin, dass er eine Vielzahl bisher unbekannter sowjetischer Gefechtsberichte ausgewertet hat und die Kämpfe und Bewegungen der sowjetischen Verbände bis ins Detail nachvollzieht. Aus den Berichten wird viel zitiert und in zahlreichen Tabellen werden Stärken und Verluste der sowjetischen Seite aufgelistet. Dies macht das Buch für die Operationsgeschichtsschreibung wertvoll.
Insgesamt liest sich das Buch allerdings wie ein offizieller sowjetischer Gefechtsbericht. Als Ergebnis der Panzerschlacht bei Prochorovka und als Fazit seiner Untersuchung hält Zamulin fest: "Even though the [Soviet] counterattack failed to reach its assigned goal, so much damage was inflicted on the enemy that he was forced to abandon his intentions to continue the offensive. This was the main result of the tank engagement of 12 July 1943 and of the counterattack as a whole." (530) So stand es bereits in sowjetischen Geschichtsbüchern und man muss sich fragen, weshalb der Titel des Buches "Demolishing the Myth" lautet - angemessener wäre "Restoring the Myth".
Zamulin hat eine große Chance nicht genutzt: Seine akribische Arbeitsweise hätte ihm einen kritischen Abgleich der sowjetischen und deutschen Dokumente ermöglicht und er hätte eine überzeugende Geschichte der Panzerschlacht bei Prochorovka schreiben können. Auch ohne Pathos und Heldenkitsch wären die Leistungen und Leiden der sowjetischen Soldaten dann zutage getreten - und wahrscheinlich umso mehr, weil glaubwürdiger. Schade!
Anmerkungen:
[1] Robin Cross: Citadel. The Battle of Kursk, London 1993, 231.
[2] Karl-Heinz Frieser: Schlagen aus der Vorhand - Schlagen aus der Nachhand. Die Schlachten von Char'kov und Kursk 1943, in: Gezeitenwechsel im Zweiten Weltkrieg? Die Schlachten von Char'kov und Kursk im Frühjahr und Sommer 1943 in operativer Anlage, Verlauf und politischer Bedeutung, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. von Roland G. Foerster, Hamburg / Berlin / Bonn 1996, 101-135.
[3] Joachim Engelmann: "Zitadelle". Die größte Panzerschlacht im Osten 1943, Friedberg 1980.
[4] Jörn Roes (Hg.): Freiwillig in den Krieg. Auf den Spuren einer verlorenen Jugend, Berlin 2005, beispielsweise 72.
Roman Töppel