Elisabeth Campagner: Judentum, Nationalitätenprinzip und Identität. Die jüdische Revolutionspresse von 1848 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 986), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 389 S., ISBN 978-3-631-50951-7, EUR 50,10
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Dirk Sadowski: Haskala und Lebenswelt. Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien 1782-1806, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Arnold Bartetzky / Marina Dmitrieva / Stefan Troebst (Hgg.): Neue Staaten - neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit 1918, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Die Revolution von 1848 und der sie begleitende "Völkerfrühling" gelten in vielerlei Hinsicht als Zäsur und waren auch für die Juden innerhalb der Habsburgermonarchie eine Gelegenheit, zu beweisen, dass sie "bürgerlich verbessert" (so das von Christian Konrad Wilhelm von Dohm geprägte Schlagwort, das die Vorbedingungen für eine Emanzipation kennzeichnete) seien. Das aufkommende Nationalitätenprinzip beeinflusste auch die Suche nach einer neuen, säkularen jüdischen Identität, zumal durch die Revolution auch Gegenkräfte wie der Antisemitismus geweckt worden waren.
Insofern ist die Selbstverortung von Juden, die mit verschiedenen, nun national "erwachten" Großgruppen innerhalb der Monarchie zusammenleben mussten, ein interessantes Thema. Eine grundsätzlich höchst vielversprechende Quelle ist daher die jüdische Presse als "veröffentlichte Meinung" und als Beitrag zur emotionalen Mobilisierung der Juden.
Elisabeth Campagner hat ihre Studie in insgesamt fünfzehn thematische Kapitel untergliedert. In den ersten drei Kapiteln stellt sie die rechtlichen Grundlagen jüdischen Lebens in der Habsburgermonarchie bis 1848 vor, dann die Situation der Juden in Wien und die rechtlichen und sozialen Folgen der Revolution für die Juden. Daran anschließend präsentiert sie die einzelnen Organe der jüdischen "Revolutionspresse". Die weiteren Kapitel stellen dann die Haltung dieser Organe in Bezug auf die einzelnen Kronländer, zur Nationalitätenfrage, zu den innerjüdischen Problemen und zur Ablehnung der Emanzipation sowie das Verhältnis zur "übrigen" Revolutionspresse vor, während der "Ungarische Israelit" und sein Magyarisierungsliegen in einem eigenen Kapitel thematisiert werden. Daran anschließend werden in weiteren Kapiteln die "jüdische Identität" definiert und das "jüdische Selbstverständnis" und die Frage diskutiert, ob die (jüdischen) Opfer der Revolution heroisiert werden. Abschließend stellt die Verfasserin drei zentrale Autoren der jüdischen Revolutionspresse vor. Sie kommt zu dem Schluss, dass die jüdische Revolutionspresse nicht den Mut hatte, einen eigenen Volksbegriff zu prägen.
Die Verfasserin hat also ein spannendes Desiderat der Forschung aufgegriffen, auch angesichts neuer Forschungsansätze wie der Verflechtungsgeschichte. Sie vermag jedoch nicht - das sei vorweg genommen -, diese Forschungslücke zu füllen, sondern enttäuscht die geweckten Erwartungen der Rezensentin aus verschiedenen Gründen:
1. Das grundlegende Problem der Studie ist, dass die Verfasserin nicht nur teilweise sehr lang zitiert, sondern dass die Darstellung weniger auf einer analytischen Durchdringung der Quellen als vielmehr auf der wortgetreuen Wiedergabe von durchaus interessanten Ausschnitten aus den Quellentexten beruht. Die Zitate werden hierbei in zumeist sehr kleinteiligen Kapiteln lediglich aufgezählt. Diese werden untereinander nicht wirklich aufeinander bezogen, sondern stehen teilweise nur nebeneinander.
2. Die Verfasserin legt hierbei einen wenig differenzierten Umgang mit den einzelnen Zeitungen an den Tag. Dies führt so weit, dass die Lemberger "Ceytung" nicht innerhalb des galizischen Kontextes, sondern nur als "jüdische Zeitung" gesehen wird. Dieses Beispiel zeigt, wie oberflächlich die Verfasserin mit den an sich höchst interessanten Quellen umgegangen ist. Die "Lemberger Jiddishe Ceytung" ist in "deytshmerisher" Sprache (künstliche Mischsprache zwischen Jiddisch und schlechtem Deutsch, aber mit hebräischen Lettern geschrieben) erschienen. Dies ist eine für diese Zeit bemerkenswerte Tatsache, die aber die Verfasserin nicht tiefgreifender analysiert hat.
3. Insgesamt arbeitet die Verfasserin in positivistischer Weise, indem sie sich überwiegend auf die Quellen stützt, während sie neuere grundlegende Arbeiten und Ansätze nicht berücksichtigt.
Diese Vorbehalte seien kurz an einem Beispiel, dem dreizehnten Kapitel über das "jüdische Selbstverständnis" (305-341, mit sechs Unterkapiteln), erläutert. Unter Bezug auf Leon Botsteins Buch "Judentum und Modernität" (Köln 1991) nennt die Verfasserin sechs verschiedene Arten von Reaktionen auf die Revolution durch die Juden, wobei sie in jedem Unterkapitel eine Reaktion anhand von Zitaten belegt, die sie zwar durch Fließtext miteinander verbindet, ohne sie aber zu kontextualisieren. So sind recht interessante Zitate zu lesen, eine analytische Betrachtung des jüdischen Selbstverständnisses ist jedoch nur in Ansätzen zu erkennen.
Schließlich geht die Verfasserin insofern recht rigoros mit dem Leser um, als zitierte hebräische beziehungsweise jiddische Begriffe größtenteils weder transkribiert noch übersetzt werden, obwohl durch das Thema auch nicht judaistisch vorgebildete Interessierte angesprochen werden.
Wenngleich der Titel des Bandes eine tiefgreifende Analyse sich wandelnder jüdischer Identitäten erwarten lässt, bietet dieser kaum mehr als eine kommentierte Anthologie - die freilich ein spannendes Thema aufgreift und nicht zuletzt aufgrund der Quellenzitate hoffentlich zu weiteren, dringend notwendigen und analytischeren Studien anregen wird.
Heidi Hein-Kircher