Michael A. Obst (Hg.): Die politischen Reden Kaiser Wilhelms II. Eine Auswahl (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 15), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, XXXII + 425 S., ISBN 978-3-506-77169-8, EUR 68,00
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"Noch ein solcher Tag, und wir haben die Republik", so kommentierte der spätere Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg resigniert die sogenannte Daily-Telegraph-Affäre im Herbst 1908. In einem Interview mit der englischen Zeitung hatte sich Kaiser Wilhelm II. zu außenpolitischen Themen in einer Art und Weise geäußert, die im In- und Ausland gleichermaßen als anmaßend und taktlos empfunden worden war. Der deutsche Kaiser war als Redner berüchtigt und ließ nur selten eine Gelegenheit aus, sich als Wortgeber der Nation zu profilieren. Viele seiner markanten Aussprüche wurden populär und sind zum Teil heute noch bekannt: "Der Dreizack gehört in unsere Faust", "Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser" und "Pardon wird nicht gegeben".
Der Wuppertaler Historiker Michael A. Obst hat in seiner 2010 publizierten Dissertation eine Vielzahl von Reden Wilhelms II. analysiert und als prägnanteste "Spielart monarchischer Repräsentation" [1] gewürdigt. Nach seiner Ansicht offerierten die kaiserlichen Reden auch über ihre unmittelbaren politischen Wirkungen hinaus einen Zugang zum Verständnis der gesamten Wilhelminischen Epoche und seien eine bisher zu wenig beachtete Quelle, um die politischen Intentionen des umstrittenen Monarchen zu beurteilen. Quasi als Ergänzung seiner Dissertation hat Obst nun eine Sammlung der politischen Reden des Hohenzollernkaisers vorgelegt. Die Edition umfasst insgesamt 245 chronologisch abgedruckte Reden Wilhelms II. aus der Zeit zwischen 1883 und 1918. 168 Redetexte sind der zeitgenössischen Quellensammlung von Johannes Penzler entnommen [2], weitere 58 sind aus anderen gedruckten Quellen zusammengetragen und 19 sind in der Quellensammlung von Obst erstmals abgedruckt worden. Als "Reden Wilhelms II." werden dabei alle Ansprachen bezeichnet, die der Kaiser "als Staatsoberhaupt gehalten hat und die als solche verstanden und veröffentlicht wurden, unabhängig davon, ob er tatsächlich ihr Urheber war oder ob er auf Entwürfe staatlicher Stellen zurückgriff" (VII). Diese Unterscheidung war für die Zeitgenossen kaum zu treffen, da Wilhelm großen Wert darauf legte, der Öffentlichkeit gegenüber als Autor seiner Ansprachen aufzutreten.
Bei der Auswahl der abgedruckten Reden waren fünf Gesichtspunkte maßgebend:
Erstens wurden Kaiserreden ausgewählt, mit denen Wilhelm II. unmittelbar ins politische Geschehen eingriff, indem er sich zu konkreten tagespolitischen Fragen äußerte. Vor der Jahrhundertwende setzte sich der Monarch wiederholt für Gesetzesvorhaben ein, so 1889/90 für eine verbesserte Arbeiterschutzgesetzgebung und 1894 und 1897 für eine Verschärfung der gesetzlichen Regelungen zur Unterdrückung sozialer Proteste ("Umsturz"- bzw. "Zuchthausvorlage"). Zweitens fanden Reden Berücksichtigung, die in der Öffentlichkeit auf starke Resonanz stießen - sei es Ablehnung, Zustimmung oder wie in den meisten Fällen eine Mischung aus beidem. Es handelte sich dabei vielfach um Ansprachen, in denen Wilhelm verbal eine extrakonstitutionelle Position einnahm. Drittens wurden Reden ausgesucht, die die große Spannbreite der kaiserlichen Redetätigkeit dokumentieren. Wilhelm II. sprach bei Besuchen in Städten und Provinzen, bei Jubiläen, Gedenkfeiern, Fabrikbesichtigungen und Schiffstaufen. Die "Allgegenwärtigkeit des Monarchen war Programm" (X), da der Kaiser sein häufiges öffentliches Auftreten als Werbung und Bestätigung des monarchischen Prinzips verstand. Viertens soll die Auswahl die inhaltlichen Schwerpunkte der Kaiserreden widerspiegeln. Häufig wiederkehrende Themen waren dabei der "Hohenzollernkult" (XI), der Kampf gegen die "Umsturzpartei" und die Flotten- und Weltpolitik. Fünftens schließlich erfolgte die Auswahl der Reden mit der Intention, Defizite älterer Quellensammlungen auszugleichen, die oft von politischen oder propagandistischen Motiven beeinflusst waren. Dies zeigt sich besonders deutlich bei einer der bekanntesten Reden Wilhelms II., der sogenannten "Hunnenrede", mit der am 27. Juli 1900 in Bremerhaven die Truppen, die nach China zur Niederschlagung des dortigen Boxeraufstandes abkommandiert waren, verabschiedet wurden. In Obsts Edition sind fünf verschiedene Versionen dieser Rede abgedruckt, die einen direkten Vergleich ermöglichen. So wird der nachträgliche Versuch offensichtlich, die Rezeption der Rede zu beeinflussen. Der viel diskutierte Passus der Rede lautet in der Penzlerschen Quellensammlung: "Pardon wird (euch) nicht gegeben" - eine "apologetische Ergänzung" (203 FN 3), die Obst für nicht stichhaltig hält. Er kann zudem durch einen Abgleich mit anderen Quellen nachweisen, dass auch die sogenannte "Handlangerrede", die der Kaiser am 26. Februar 1897 bei einer Festveranstaltung des Brandenburgischen Provinziallandtages hielt, von Penzler "geschönt" wurde. Die Ratgeber von Kaiser Wilhelm I. werden hier nicht als "Handlanger", sondern als "Werkzeuge seines erhabenen Wollens" (156) bezeichnet.
Obst kommt mit seiner Quellenedition der Verdienst zu, Redetexte an einem Ort zu veröffentlichen, die bisher weit verstreut oder nur archivarisch zugänglich waren. Hilfreich für die weitere Forschung über den letzten deutschen Kaiser ist die kritische Überarbeitung der häufig offiziös gefärbten Ansprachen. Einziger Kritikpunkt ist der fehlende kritische Kommentar, der eine Benutzung der Quellensammlung erschwert. Um die Reden des Kaisers analysieren zu können, ist es unerlässlich, mit Obsts Dissertation und der Edition parallel zu arbeiten. In den Fußnoten der Quellendokumente wird zum Teil explizit auf die entsprechenden Seiten von Obsts Studie verwiesen. Hier hätte sich eine "leserfreundlichere" Ausgabe angeboten. Davon abgesehen handelt es sich um eine wichtige Quellensammlung, die ein prägnantes Bild auf die Wilhelminische Epoche und ihren Namensgeber wirft.
Anmerkungen:
[1] Michael A. Obst: "Einer nur ist Herr im Reiche". Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner, Paderborn 2010, 10. Vgl. hierzu die Rezension von Martin Kohlrausch, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2011/05/17730.html
[2] Johannes Penzler (Hg.): Die Reden Kaiser Wilhelms II. 4 Bände, Leipzig 1897-1913.
Michaela Bachem-Rehm