Johannes Willms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754-1838. Eine Biographie, München: C.H.Beck 2011, 384 S., 24 Abb., ISBN 978-3-406-62145-1, EUR 26,95
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Nach den Biographien über Napoleon (2005), Balzac (2007), Napoleon III. (2008) und Stendhal (2010) legt Johannes Willms nun schon die fünfte Lebensgeschichte eines berühmten Franzosen vor, und diesmal ist es wieder - in regelmäßigem Wechsel - ein Politiker: Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord schaffte es zwar nicht wie die beiden Napoleons ganz an die Spitze des Staates, aber er gehört wie diese zu den einflussreichsten, emblematischsten und damit auch umstrittensten politischen Figuren der französischen Geschichte im Jahrhundert der Revolutionen von etwa 1770 bis 1870. Schon häufig ist Talleyrands Leben, wie der Autor gleich im ersten Satz seines Buches bemerkt, geschildert worden, und dabei sei Talleyrand meist als "gewissenloser Opportunist" (10) porträtiert worden. Man müsse allerdings, so Willms in Anlehnung an den Fürsten von Metternich, "den moralischen vom politischen Menschen unterscheiden". Demnach setzt sich Willms zum Ziel, das "politische Denken und Handeln Talleyrands unter sich bisweilen ebenso rasch wie dramatisch verändernden Rahmenbedingungen" nachzuzeichnen, und er verknüpft damit die Absicht, den ständigen "Maskenwechsel" und die damit verbundene "Anpassung seiner politischen Rhetorik" zu schildern (11).
In elf Kapiteln, die sich in drei Bücher gruppieren (Erstes Buch: Im Dienst von Kirche und Revolution; Zweites Buch: Vom Mentor zum Widersacher Napoleons; Drittes Buch: Enttäuschte Illusionen), entfaltet Willms in sehr flüssigem und anschaulichem Schreibstil das politische Denken und Wirken Talleyrands, wobei seine privaten Ansichten und Affären immer wieder in ihren Wechselbeziehungen mit den politischen Ambitionen und Aktionen präsentiert werden. Willms stützt sich dabei auf ein umfassendes Korpus von (publizierten) Quellen, vor allem die Memoiren Talleyrands und seiner Zeitgenossen, Korrespondenzen, Tagebücher und Reden (Parlamentsprotokolle). Die ältere und (eher selektiv) die neuere Forschungsliteratur werden herangezogen, unter anderem die vor einigen Jahren erschienenen englisch- und französischsprachigen Biographien von Philip G. Dwyer [1] und Emmanuel de Waresquiel. [2] (Leider fehlt ein Literaturverzeichnis, so dass die Materialgrundlage mühsam aus den Anmerkungen, die immerhin sechzig Seiten einnehmen, erschlossen werden muss. Warum der Beck Verlag seinem historisch interessierten Publikum diesen Service, der auf zehn Seiten unterzubringen wäre, immer öfter verweigert, erschließt sich dem Rezensenten nicht).
Willms' Porträt von Talleyrand erfüllt schon allein deshalb eine wichtige Funktion, weil seine Studie die einzige umfassende Biographie in deutscher Sprache ist, denn die erwähnten Werke von Dwyer und Waresquiel wurden nicht übersetzt, und von den deutschen Historikern hat sich seit Jahrzehnten keiner ausführlich mit der Person Talleyrand befasst. Das von Willms entworfene Porträt präsentiert einen Mann, dessen charakterliche Schwächen und Illusionen keineswegs verschwiegen werden, der aber, so beharrt sein Biograph, keinesfalls jener prinzipienlose Opportunist war, als der er in der bisherigen Forschung zumeist dargestellt werde. Vielmehr habe Talleyrand ein dezidiertes politisches Programm, eine "genau umrissene Vorstellung von Frankreich und dessen Zukunft" (316) gehabt und diese seit den 1790er Jahren über alle Regimewechsel hinweg konsequent verfolgt. Die wichtigsten Elemente dieses Programm waren einerseits der Status Frankreichs als europäische Großmacht, deren außenpolitische Ambitionen aber so gezügelt werden sollten, dass der Friede und die Stabilität in Europa gewährleistet sein sollten; andererseits habe sich Talleyrand seit dem Beginn der Französischen Revolution für eine liberale konstitutionelle Monarchie eingesetzt, die er als Gegenentwurf zum Extremismus der Republik auf der einen und der imperialen Übersteigerung auf der anderen Seite betrachtet habe. Insofern, so Willms' Fazit am Ende seines Buches, habe Talleyrand stets in Anspruch nehmen können, sein politisches Wollen und Handeln sei patriotischen Grundsätzen entsprungen. Gleichzeitig räumt Willms ein, es sei nicht Selbstlosigkeit, sondern das eigene Karriereinteresse gewesen, das Talleyrand veranlasst habe, "den Patrioten zu geben" (316).
In dieser oszillierenden Bewertung wird deutlich, dass es auch Willms am Ende nicht gelingt, die tiefsten Motive Talleyrands mit letzter Klarheit freizulegen. Willms beurteilt ihn einerseits als "Staatsmann" mit einer politischen Vision, andererseits zeigt er ihn als karriereversessene, korrupte und intrigante Figur im turbulenten politischen Machtspiel, in dem er oft genug die zweite Geige spielen musste und nur in relativ kurzen Phasen wirklich den Ton angeben konnte. Die Frage, ob Talleyrand, wie der Untertitel des Buches andeutet, ein "Virtuose der Macht" war, wird im Text nicht explizit aufgegriffen, an einer Stelle ist die Rede vom "Pragmatiker der Macht" (210), was eher in die andere Richtung deutet, wie auch die Vokabel vom "gehobenen Sachbearbeiter" (137). Virtuosität bewies Talleyrand gewiss auf diplomatischem Parkett und in der "Vermischung privater und diplomatischer Interessen" (36), seine Erfolge als Machtpolitiker und Staatsmann scheinen eher begrenzter Natur gewesen zu sein, und als Patriot kann dieser wendige Höfling, der, wie Willms vermerkt, alle politischen Eide brach, die er in seinem Leben schwor, wohl kaum bezeichnet werden.
Obwohl das vergleichsweise positive Urteil von Willms über den vorausschauenden Politiker Talleyrand nicht restlos überzeugen kann, ist das Buch eine anregende, aufschlussreiche und oftmals amüsante Auseinandersetzung mit einer Figur, die im politischen wie im privaten Leben nach wie vor viele Rätsel aufgibt.
Leider hat das Lektorat es an Sorgfalt fehlen lassen: mehrfach tauchen falsche Jahreszahlen auf (114: 1796 statt 1797; 163: 1897 statt 1807; 293: 1815 statt 1825), für 1782 ist von Franz II. statt Joseph II. als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches die Rede (32 f.), die neue Rechtschreibung wird nicht immer konsequent und regelkonform benutzt, und in der zweiten Hälfte des Buches nehmen die sprachlichen Versehen zu.
Anmerkungen:
[1] Philip G. Dwyer: Talleyrand, London 2002.
[2] Emmanuel de Waresquiel: Talleyrand: Le prince immobile, Paris 2003.
Jürgen Müller