Karin Schmidt: Zur Frage der Zwangsarbeit im Strafvollzug der DDR. Die "Pflicht zur Arbeit" im Arbeiter- und Bauernstaat (= Sklaverei - Knechtschaft - Zwangsarbeit. Untersuchungen zur Sozial-, Rechts- und Kulturgeschichte; Bd. 7), Hildesheim: Olms 2011, XI + 530 S., ISBN 978-3-487-14571-6, EUR 78,00
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Nachdem Marcus Sonntag eine Untersuchung zu den Haftarbeitslagern Sollstedt, Unterwellenborn und Regis vorgelegt hat [1], liegt nun eine voluminöse Überblicksdarstellung zur Häftlingsarbeit in der DDR vor. Karin Schmidt behandelt darin den Stellenwert der Arbeit im Sozialismus, die daraus resultierenden rechtlichen Normen sowie die Verfolgung angeblich Arbeitsunwilliger. Die einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuchs waren in ihren Anwendungsvoraussetzungen sowie in der Strafzumessung so dehnbar, dass Freiheitsstrafen fast beliebig verhängt werden konnten. Aus Sorge um die Reputation im Ausland wurde zwar 1954 die "zwangsweise Einweisung von Arbeitskräften" ohne Strafurteil abgeschafft (52), doch Gefangene wurden jetzt verstärkt zur Arbeit genötigt. Dies sollte der Volkswirtschaft sowie der Erziehung der Delinquenten nutzen.
Die Trierer Dissertation stellt den politischen Verfolgungsapparat als institutionelle Voraussetzung der Häftlingsarbeit ebenso dar wie das Straf-, Strafprozess- und Strafvollzugsrecht. Entsprechende Reglements zitiert die Autorin häufig, so dass viel Gewicht auf der normativen Ebene liegt - etwa wie die Aufseher sich gegenüber den Gefangenen verhalten sollten oder welche Produktionspläne es zu erfüllen galt. Schmidt verschließt jedoch keineswegs die Augen vor der Praxis, sondern hat Akten der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter ausgewertet und ehemalige Insassen befragt, so dass die faktische Willkür von Justiz und Gefängnisverwaltung sehr deutlich wird.
Die Zuteilung rarer Häftlingsarbeit galt zwar Anfang der 1950er Jahre noch als Vergünstigung, weil dies gegenüber dem stupiden Absitzen der Freiheitsstrafe für Abwechslung sorgte. Doch für Gefangene galten verfassungsrechtlich garantierte soziale Mindeststandards ebenso wenig wie arbeitsrechtliche Ansprüche aus einem Arbeitsvertrag; Überstunden blieben unbezahlt. Häftlinge waren beliebig einsetzbar - auch für schwere, gefährliche und monotone Arbeiten, die gewöhnliche Werktätige kaum verrichten mochten. Von ihrem geringen Lohn durften die Gefangenen dann u.a. überteuerte Lebensmittel kaufen. Den größeren Teil aber behielt die Gefängnisverwaltung, um die (schlechte) Unterbringung sowie die (miserable) Verköstigung zu finanzieren. Vor allem wegen der hohen Bewachungskosten rechnete sich die Häftlingsarbeit aber letztlich nicht, wie die Autorin zutreffend feststellt. Dennoch waren die Gefangenen mit bis zu einem Prozent an der Bruttoinlandsproduktion beteiligt und daher für die DDR-Wirtschaft unverzichtbar.
Dass der Arbeitseinsatz erzwungen war, widerrechtlich erfolgte und die Menschenwürde der Betroffenen hunderttausendfach verletzte, weist Schmidt überzeugend nach. Indes fehlt es ihrer Studie gelegentlich an Systematik - das Kübelsystem etwa wird im Kapitel über die Entlohnung der Gefangenenarbeit behandelt. Über die Wortwahl ließe sich bei "Vollzugsbediensteten" (4) oder "Strafgefangenen" (6) ebenfalls streiten, wenn Aufseher bzw. ausschließlich politische Gefangene gemeint sind. Vor allem aber rezipiert die Autorin nicht den aktuellen Forschungsstand und verweist oft auf periphere oder veraltete Publikationen. Wichtige Experten wie der Rechtshistoriker Klaus Marxen und Norbert F. Pötzl, der zu Häftlingsfreikäufen gearbeitet hat, bleiben unerwähnt. Nicht berücksichtigt werden auch Joachim Scherrieble und Leonore Ansorg, die zu einzelnen Haftanstalten wichtige Bände vorgelegt haben. Die mit dem Arbeitseinsatz thematisch eng verwandte "Asozialität" wurde in den letzten Jahren ebenfalls intensiv untersucht, doch rezipiert Schmidt die einschlägigen Autoren nicht. [2] Dies fiele weniger ins Gewicht, wollte sie nicht gerade aus der Literatur eine Gesamtschau des Arbeitseinsatzes in DDR-Haftanstalten schöpfen.
Hervorzuheben ist, dass die Autorin ehemaligen politischen Gefangenen Fragebögen vorgelegt und die Antworten von 16 vormals Betroffenen auf rund 120 Seiten abgedruckt hat. Außerdem konnte Schmidt sechs ehemalige Aufseher für ein Interview gewinnen, was vor ihr nur selten Autoren gelang. So vermag sie auch Interna der Gefängnisverwaltung nachzuzeichnen - wie die Konkurrenz einzelner Haftanstalten um Zuteilung qualifizierter Arbeitskräfte.
Das Völkerrecht sanktioniert eine Arbeitspflicht, wenn diese rechtsstaatlich korrekt umgesetzt wird, die Menschenwürde stets gewahrt bleibt und kein Profit beabsichtigt ist. Sofern auch demokratische Staaten wie die Bundesrepublik Inhaftierte zur Arbeit verpflichten, ist zudem eine angemessene Entlohnung unerlässlich. In der DDR war dies alles nicht gegeben. Daher muss "die [...] Pflicht zur Arbeit im Strafvollzug der DDR als Zwangsarbeit beurteilt werden", so Schmidt (303). Diese Feststellung ist juristisch korrekt, historisch werden mit diesem Begriff meist die nationalsozialistischen Konzentrationslager sowie die Zwangsarbeiter assoziiert. Den Terminus auch auf Gefängnisse und Lager im SED-Staat anzuwenden, würde einen strukturellen Vergleich der erzwungenen Arbeit von Häftlingen in den beiden Diktaturen voraussetzen - und dieser müsste mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede erbringen. Dass die Autorin diesen Vergleich nicht auch noch anstellt, ist ihr nicht vorzuwerfen - doch sollte sie den landläufigen Bedeutungsgehalt des Begriffs "Zwangsarbeit" dann auch nicht aufweichen, indem sie ihn in anderen Zusammenhängen benutzt.
Anmerkungen:
[1] Marcus Sonntag: Die Arbeitslager in der DDR, Essen 2011. Zuvor existierte zum Thema lediglich die Studie von Uwe Bastian und Hildigund Neubert: Schamlos ausgebeutet. Das System der Haftzwangsarbeit politischer Gefangener des SED-Staates (hrsg. vom Bürgerbüro e.V.), Berlin 2003.
[2] Sven Korzilius: "Asoziale" und "Parasiten" im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln 2005, und Stefan Middendorf: Recht auf Arbeit in der DDR. Von den theoretischen Grundlagen bis zu den Berufsverboten für Ausreisewillige, Berlin 2000, werden erwähnt, nicht jedoch Joachim Windmüller: Ohne Zwang kann der Humanismus nicht existieren... - "Asoziale" in der DDR, Frankfurt a.M. 2006 und Matthias Zeng: "Asoziale" in der DDR. Transformation einer moralischen Kategorie, Münster 2000.
Tobias Wunschik