Bernard Lewis: The End of Modern History of the Middle East, Stanford, CA: Hoover Institution Press 2011, XXVI + 188 S., ISBN 978-0-8179-1294-9, USD 19,95
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In dem vorliegenden Sammelband untersucht der inzwischen 95-jährige Nahostexperte Bernard Lewis in vier jeweils in sich geschlossenen Aufsätzen die Zukunftsperspektiven des Nahen und Mittleren Ostens (NMO) nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Für Lewis markiert das Jahr 1990 damit, in offensichtlicher Anlehnung an Francis Fukuyama, das Ende der modernen Geschichte der Region, was mit dem vermeintlichen Wegfall externer Einflussnahme begründet wird.
Konventionell lässt Lewis im ersten Kapitel mit dem Titel "The End of Modern History in the Middle East" die Moderne in NMO mit dem Einfall Napoleons in Ägypten 1798 einsetzen. Damit beginne eine Periode, in der die Region von den Auseinandersetzungen ausländischer Mächte dominiert wurde. Dieses von Napoleon geöffnet Tor hätten erst Georg H.W. Bush und Gorbatschow wieder geschlossen. Die Region sei somit nun erstmals wieder auf sich alleine gestellt und müsse folglich (endlich) zu den eigenen Fehlern stehen. Die desillusionierten Bewohner des NMO, so Lewis, müssten heute zwischen zwei Ideologien wählen: der liberalen Demokratie oder dem islamischen Fundamentalismus, denn "each offers a diagnosis of the ills and its cure" (10). Seine Prognose lautet hierbei wie folgt: "If freedom fails and terror triumphs, the peoples of Islam will be the first and greatest victims" (68). Drei Faktoren könnten dem Nahen und Mittleren Osten jedoch noch helfen: die Türkei, Israel und Frauen.
Das zweite Kapitel, "Propaganda in the Middle East", setzt sich zunächst mit der Geschichte des Wortes "Propaganda" auseinander. Das ursprünglich positiv konnotierte Wort habe erst im Laufe der Zeit eine negative Bedeutung erhalten. Dies treffe ebenfalls für das arabische Wort diʿāya zu, das in Verruf kam, da es die dortigen autoritären Regime zur Rechtfertigung ihrer Politik missbraucht hätten. Lewis Ratschlag lautet, dass die Menschen kritisch sein müssten, um sich von falscher Propaganda nicht verwirren zu lassen.
Der dritte Aufsatz, "Iran: Haman or Cyrus?", beschäftigt sich mit der Geschichte des Iran vor der sogenannten Islamischen Revolution und den historischen Beziehungen Irans zu Israel und den Juden. Im Unterschied zu anderen Teilen der Region seien Iraner nicht nationalistisch, sondern patriotisch. Den gegenwärtigen Regenten des Landes würde dieser Volkspatriotismus jedoch nicht zugutekommen. Die im Titel genannten Personen Haman und Kyros sind Figuren aus der Bibel. Kyros, eine sehr positiv geschilderte Persönlichkeit, befreite die im Irak exilierten Juden. Haman, der Großwesir des Buches Esther, hingegen setzt sich die Vernichtung aller Juden zum Ziel und dient Lewis als negative Blaupause. Der Iran verkörpere heute eher Haman. Lewis warnt allerdings im Umgang mit dem hamanischen Iran: wenn der Westen zu offensiv gegen den Iran vorgehe, gewinne das Regime das, was es bisher nicht besitze: die Unterstützung der iranischen Patrioten.
In "The New Anti-Semitism - First Religion, then Race, then What?", dem vierten Aufsatz, argumentiert Lewis, dass es verschiedene Muster der Bewertung staatlichen Verhaltens gebe. Er vergleicht die Reaktion der internationalen Öffentlichkeit auf das Massaker von Sabra und Shatila mit denen auf das Massaker von Hama 1982 in Syrien. Die Verwicklung Israels in ersteres habe zu empörten Reaktionen geführt, wohingegen letzteres kaum wahrgenommen worden sei. Die heftigen Reaktionen auf Gräueltaten, in die Israel verwickelt ist, seien Ausdruck einer anti-jüdischen Haltung. In der weiteren Argumentation erklärt Lewis, dass Antisemitismus in der arabisch-muslimischen Welt zunächst ein unbekanntes Phänomen war, das von Europa in die Region exportiert wurde: denn solange sich der Hass gegen Juden auf einer rein religiösen Ebene bewegte, gab es immer noch die Möglichkeit zu konvertieren. Diese Möglichkeit verschwand, nachdem der Judenhass auf eine rassische Ebene verschoben wurde.
Der Titel des Buches The End of Modern History in the Middle East stellt, wie oben erwähnt, in sich selbst bereits eine provokante These dar. Allerdings stellt lediglich der erste Aufsatz einen Bezug zum Thema her, obwohl die These einer überzeugenden Argumentation bedurft hätte. Zum Beispiel legt Lewis, so konventionell wie umstritten, Napoleons Landung in Ägypten als Startpunkt der Moderne in NMO fest, ohne aber mit einem Wort zu erklären, was er unter Moderne versteht. Die Behauptung, das Ende der modernen Geschichte der Region nach dem Zusammenbruch der UDSSR ginge mit dem Ende der Penetration externer Mächte einher, verbunden mit der Forderung, die nun auf sich selbst gestellten Staaten müssten nicht nur endlich verantwortungsvoll handeln, sondern auch die eigenen Fehler anerkennen, offenbart eine sehr eigene und äußerst paternalistische Sichtweise. Zum einen scheint Lewis zu ignorieren, dass z.B. Militär- und Entwicklungshilfen für die korrupten Diktatoren der Region durchaus ein Einmischen in die Geschicke jener Länder darstellt. Andererseits deutet Lewis die Militärpräsenz des Westens in Afghanistan und Irak einfach um: man habe diesen Ländern Freiheit gebracht und ihnen somit dazu verholfen, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen.
Lewis, Schöpfer des Kampfbegriffs "clash of civilizations", auf welchen Huntington später Bezug nimmt, ist ein Vertreter kulturalistischer Erklärungen, der regionale Entwicklungen v.a. auf den Islam zurückführt. Er vernachlässigt andere Analysefaktoren: demographische Entwicklung, geographische Lage, die tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft etc. Zudem definiert er viele zentrale Begriffe nicht: Fundamentalismus, Islamismus, Moderne, Modernisierung, Nationalismus, Patriotismus. Er betont im dritten Kapitel, dass Iraner patriotisch, nicht aber nationalistisch seien. Was das eine oder andere heißt, lässt er offen. Es wirkt eher so, als wolle Lewis aus einer persönlichen Sympathie gegenüber den Iranern den negativ konnotierten Nationalismus-Begriff meiden. So behauptet Lewis auch, dass viele Iraner eine Invasion durch die USA gern sehen würden. Worauf er diese Aussage stützt, lässt er offen - wie auch andere fragwürdige Aussagen nicht belegt werden. Stattdessen spart er nicht mit zweifelhaften und v.a. emotional belegten Begriffen wie "nuclear holocaust". Hinzu kommt, dass nach Lewis eigentlich alle Errungenschaften in NMO, auch die schlechten, auf Europa bzw. die USA zurückzuführen sind. Selbst der Abzug syrischer Truppen aus dem Libanon 2005 sei auf die amerikanische Truppenpräsenz dort zurückzuführen (33/34) - eine Behauptung, die die Bedeutung der Zedernrevolution völlig außer Acht lässt.
Insgesamt sind Lewis geschichtliche Ausführungen interessant zu lesen. Einige Erklärungen sind allerdings fehlerhaft. So trifft es nicht zu, dass der arabischer Begriff für Propaganda diʿāya nur negativ zu verstehen ist. Im Gegensatz zum englischen und deutschen Pendant steht der arabische Begriff auch für "Werbung" und besitzt in diesem Zusammenhang eine neutrale Bedeutung. Auch Lewis Zukunftsprognosen bleiben strittig. So weissagt er, dass einer der zukünftigen regionalen Konflikte der Grenzkonflikt zwischen der Türkei und Syrien um die in der heutigen Türkei liegenden Provinz Iskenderun sein könnte. Lewis erwähnt hierbei nicht, dass die türkisch-syrischen Beziehungen vor dem Ausbrechen der Aufstände in Syrien im März 2011 so gut waren wie noch nie, dass es seit 2009 etwa Visa-Freiheit zwischen den beiden Ländern gibt und dass die Türkei wirtschaftlich, vor allem im Bausektor, sehr engagiert ist in Syrien. Da sich das Buch an eine breite, nicht wissenschaftliche Leserschaft wendet, ist die Unterlassung kontestierender Aussagen ein großer Kritikpunkt, da Lewis ein lückenhaftes, verzerrtes Bild der Situation in NMO zeichnet.
Die in dem vorliegenden Buch gesammelten Aufsätze stammen alle aus der Zeit von 1997 bis 2006, können den arabischen Frühling und dessen Implikationen für die Region entsprechend nicht mit einbeziehen. Da der arabische Frühling jedoch alles andere als ein Nebenereignis zu sein scheint und nicht nur die Region, sondern auch die westliche Sicht auf dieselbe bereits heute wesentlich verändert hat, erscheinen viele seiner Aussagen schon jetzt, knapp ein Jahr nach der Veröffentlichung, als kontextlos.
Ansar Jasim