Jörg Requate: Frankreich seit 1945 (= Europäische Zeitgeschichte; Bd. 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 254 S., ISBN 978-3-8252-3536-9, EUR 19,90
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In der alten Bundesrepublik wurde die deutsche Geschichte oft als ein "Sonderweg" begriffen, der sich vom Hauptstrom der Geschichte westlicher Demokratien unterschied. In den letzten Jahren ist diese Sichtweise unter dem Vorzeichen der "Verwestlichung" wiedererstanden: Über viele Jahrzehnte habe sich Deutschland auf einem "langen Weg nach Westen" den Normen angepasst, die von seinen Nachbarn vorgegeben wurden.
Welche Staaten diesem "Westen" zuzurechnen sind, ob es sich dabei um Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Frankreich handelt, oder ob er vielmehr eine gedachte Einheit, ein Idealtypus ist, wird dabei oft nicht näher thematisiert. Frankreich, so stellt Jörg Requate in der Einleitung seines Buchs plausibel dar, hat sich nie als Teil eines westlichen "Normalwegs" verstanden, sondern stets auf seinem Ausnahmecharakter beharrt und eine ausgreifende Debatte über die "exception française" geführt. Diese gegenläufigen Vorstellungen, die deutsche Wahrnehmung einer westlichen, Frankreich umfassenden Einheit einerseits und das französische Selbstbewusstsein vom eigenen Sonderweg andererseits, versucht Requate miteinander in Einklang zu bringen, indem er das Land einem "anderen Westen" zurechnet. Zweifellos verbinde die frühzeitige Ausprägung einer parlamentarischen Demokratie Frankreich mit dem Westen, doch nehme es innerhalb dieser gedachten Einheit eine Sonderrolle ein: Der französische Sonderfall, so legt der Autor dar, bestehe insbesondere in der Republik als kollektiver Leitvorstellung und der sakralen Aura, mit welcher sich die französische Staatlichkeit umgebe.
Auf knapp 250 Seiten und in 12 Kapiteln unternimmt Jörg Requate den mutigen Versuch, die Entwicklung Frankreichs seit dem Kriegsende unter diesen Leitmotiven nachzuzeichnen und dabei einen weitgespannten, ja totalgeschichtlich zu nennenden Ansatz zu verfolgen. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Sozialstaat, Außen- und Europapolitik, Kultur, Medien, Geschlechterverhältnisse, intellektuelle Debatten - alle diese Themen werden angeschnitten und teils vertieft. Der Versuch kann als ausgesprochen gelungen bezeichnet werden, denn der Autor ist bestens über die zeithistorische Forschung und gegenwärtige soziokulturelle Debatten informiert. Er scheint das Land von innen zu kennen, vermeidet konsequent den in der deutschen Frankreichliteratur immer wieder anzutreffenden ironisierenden Tonfall, vermag die Andersartigkeit des Landes stets verständlich zu machen, ohne sich von ihr zu distanzieren. Die Aufgliederung in zahlreiche teils chronologische, meist aber thematisch orientierte Unterkapitel erlaubt es dem an bestimmten Problemen orientierten Leser, sich schnell auf den Stand der gegenwärtigen Forschung zu bringen. Der Nachteil dieses Ansatzes ist, dass die verschiedenen Wandlungsprozesse zu wenig in ihrer Wechselwirkung, Gleichzeitigkeit und gegenseitigen Abhängigkeit sichtbar werden: Die Entwicklungsschritte der Nachkriegszeit, Wiederaufbau und Konsolidierung bis in die 50er Jahre, tiefgreifende Wandlungen seit den 60er Jahren und Krisenmanagement seit den späten 70er Jahren werden sichtbar, doch entsteht aus den verschiedenen Unterkapiteln kein zusammenhängendes Narrativ.
Die von Requate vorgenommenen Interpretationen und Gewichtungen erscheinen dem Rezensenten zu weiten Teilen wohl begründet und sinnvoll. Nur an wenigen Stellen überzeugt das Buch nicht: So steht in seinem Zentrum ein Kapitel zur "Zäsur" der Jahre 1968/69 mit einer vergleichsweise detaillierten Schilderung der Pariser Mai-Unruhen. Man fragt sich, warum der Autor diesen Schwerpunkt gesetzt hat. Denn bei fast allen geschilderten Problemzusammenhängen macht der Autor sichtbar, dass 1968 eben nicht die "Zäsur", der soziokulturelle Wendepunkt war, als den man ihn lange verstanden hatte: Die Wandlungsprozesse beginnen deutlich früher; und 1968 ist eher Symptom und Ausdruck einer tiefgreifenden Transformation als deren Ausgangspunkt. Als ausgewiesener Experte der Mediengeschichte legt Requate einen Akzent auf die Entwicklung von "Mediengesellschaft und politische Kommunikation" - seinem Unterkapitel zu den "Fernsehduellen" der Präsidentschaftskandidaten räumt er indes zu viel Raum ein, werden doch weitgehend die mittlerweile zu geflügelten Worten gewordenen Zitate aus den einzelnen Debatten nacherzählt.
Dagegen werden zwei Aspekte zu wenig berücksichtigt: Der eine betrifft die Belastungen der Besatzungszeit für die Nachkriegsära. Der Rezensent hätte sich gewünscht, dass das Trauma von 1940 sowie die tiefe Spaltung des Landes zwischen Kollaborateuren und Résistants nicht nur summarisch als eine zu bewältigende Vergangenheit gewürdigt worden wären, sondern als strukturierende Faktoren der Nachkriegsgeschichte. Der andere Aspekt ist die Einwanderung, die von Requate erstaunlich knapp behandelt wird. Das Kapitel "Migration und neue Ungleichheiten" (125-130) erschöpft sich in vielen Zahlen und Daten; das Thema der Integration wird dagegen kaum behandelt. Der Autor versteht die französische Idee der Republik vor allem als Staats- und politisches Partizipationskonzept; seine Bedeutung als soziales Integrationsmodell wird zu wenig untersucht. Vor diesem Hintergrund kann Requate auch nicht erklären, warum das republikanische Integrationsmodell in den 1990er und 2000er Jahren in eine schwere Krise geriet und die Einwanderung zum beherrschenden innenpolitischen Thema werden konnte. Ebenso unterschätzt der Autor die Bedeutung des 21. Aprils 2002, an dem Jean-Marie Le Pen den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl erreichte. Keineswegs hatte damit der "Front national" (FN) sein Zenit erreicht, wie Requate nahelegt. Der Wahlerfolg seiner Tochter zehn Jahre später legt davon ein Zeugnis ab. Die gravierenden Konsequenzen des 21. April für das gesamte politische Leben werden nicht hinreichend sichtbar: Nur vor diesem Hintergrund kann das Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags im französischen Referendum von 2005 verstanden werden. Und seitdem hat die republikanische Rechte versucht, die Wählerschaft des FN zurückzugewinnen, indem sie sich dessen Ideen annäherte und sie auf diese Weise hoffähig machte. Das "Quinquennat" von Nicolas Sarkozy ist viel stärker als Requate es sichtbar macht, von dem Bestreben gekennzeichnet, die Themen Nation, Souveränität, Identität und Immigration für die republikanische Rechte zurückzugewinnen. Aber dies ist mehr Politik als Zeitgeschichte; spätere Historiker werden die Bilanz dieser Präsidentschaft ziehen müssen.
Ungeachtet der genannten Einwände sollte jeder, der sich für das moderne Frankreich interessiert, das kenntnisreiche und feinsinnige Buch von Jörg Requate lesen.
Matthias Waechter