Frédéric Bozo / Christian Wenkel (eds.): France and the German Question, 1945-1990, New York / Oxford: Berghahn Books 2019, 308 S., ISBN 978-1-78920-226-7, USD 130,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jörg Requate: Frankreich seit 1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011
Michael Wirth: Die deutsch-französischen Beziehungen während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt (1974-1982). "Bonne entente" oder öffentlichkeitswirksame Zweckbeziehung?, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2007
Arnd Bauerkämper / Hartmut Kaelble (Hgg.): Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren. Migration - Konsum - Sozialpolitik - Repräsentationen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012
Das Erscheinen dieses Sammelbands, der auf eine internationale Tagung am Deutschen Historischen Institut Paris im Jahre 2013 zurückgeht, ist in mehrerlei Hinsicht besonders zu begrüßen: Zunächst wegen des weiten zeitlichen Horizonts, mit der Frankreichs Rolle in der deutschen Frage in den Blick genommen wird - von der unmittelbaren Nachkriegszeit über die Periode des Kalten Kriegs bis hin zur Zeitenwende um 1989/90. Des Weiteren wegen der geographischen Spannbreite, geht es doch bei weitem nicht nur um Frankreichs Einfluss, sondern auch darum, wie sich dieser zur Rolle anderer Staaten wie der Sowjetunion, Großbritannien, Polen und Österreich verhält. Bemerkenswert ist darüber hinaus die hohe Qualität der Autorinnen und Autoren, die allesamt durch zahlreiche Publikationen ausgewiesene internationale Experten sind. Schließlich ist es besonders begrüßenswert, dass alle Beiträge auf Englisch veröffentlicht wurden und somit einem breiten Leserkreis zugänglich sind. So wird dazu beigetragen, die wissenschaftliche Debatte über die deutsch-französischen Beziehungen zu internationalisieren.
Die beiden Herausgeber sind durch einschlägige Beiträge zur französischen Deutschlandpolitik bekannt: Frédéric Bozo kann als einer der besten Kenner der französischen Politik in der Phase der deutschen Wiedervereinigung gelten, während Christian Wenkel 2011 eine Edition französischer Archivquellen aus den Jahren 1989/90 mitherausgegeben hat. [1] In ihrer Einleitung legen sie überzeugend das Forschungsinteresse des Sammelbands dar: Erstens ist die Deutsche Frage seit 1870/71 ein, wenn nicht das kardinale Leitmotiv der französischen Außen- und Europapolitik. Zweitens war Frankreich ein zentraler, entscheidender Akteur in der Deutschen Frage, nicht nur aufgrund seiner Prärogativen als eine der vier Siegermächte, sondern auch dank seiner Fähigkeit, ein Netz diplomatischer Ressourcen in Mittel- und Osteuropa sowie gegenüber der DDR zu mobilisieren. Drittens ist den Herausgebern daran gelegen, Frankreichs Rolle in der Deutschen Frage in neuem, positiveren Licht zu zeigen. Nach ihrer Auffassung standen einerseits zumeist die Großmächte USA und UdSSR im Vordergrund, wenn die internationale Deutschlandpolitik nach 1945 diskutiert wurde. Andererseits haben viele Autoren Frankreich eine wenig konstruktive Rolle in der Entwicklung der Deutschen Frage attestiert, gipfelnd in der These, dass Präsident François Mitterrand die deutsche Vereinigung wenn nicht gar verhindern, so doch habe verzögern wollen.
Der Band ist in sechs Teile untergliedert: Der erste mit Beiträgen von Rainer Hudemann und Françoise Berger ist der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Projekten der französischen Besatzungsmacht für Deutschland gewidmet. Sodann geht es in einem zweiten Teil mit Aufsätzen von Michael H. Creswell und Geoffrey Roberts um die Frühphase des Kalten Kriegs sowie die Debatten um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Im dritten Teil gehen Garret J. Martin und Benedikt Schoenborn auf den "De Gaulle Factor" ein: den Versuch des ersten Präsidenten der Fünften Republik, ein eigenständiges, um die französisch-deutsche Achse gebildetes Europa in der Sicherheitsarchitektur der Nachkriegszeit aufzubauen. Der Phase der Entspannungspolitik und der Ära Giscard-Schmidt ist der vierte Teil mit Beiträgen von Gottfried Niedhart, Nicolas Badalassi und Guido Thiemeyer gewidmet. In dem "The Ende Game" überschriebenen fünften Teil untersuchen Bernd Rother, Ilaria Poggiolini und Frédéric Bozo, wie Frankreich auf die Perspektive einer deutschen Vereinigung in der Endphase des Kalten Kriegs reagierten. Ein letzter Teil versammelt Aufsätze von Thomas Angerer, Pierre-Frédéric Weber und Christian Wenkel, in denen es um die Rolle Österreichs, Polens und der DDR in der Deutschen Frage geht.
Im dreißigsten Jubiläumsjahr der deutschen Einheit liest man mit besonderem Interesse die Beiträge zu Frankreichs Rolle in den Jahren 1989/90. So zeigt Ilaria Poggiolini in einem sehr prägnanten Essay die Unterschiede zwischen der britischen und der französischen Antwort auf die sich anbahnende deutsche Vereinigung auf: Während François Mitterrand die europäische Einhegung eines vereinigten Deutschland anstrebte, stand Margaret Thatcher diese Option nicht zur Verfügung, war sie doch prinzipiell gegen eine Vertiefung der europäischen Integration eingestellt. Vor diesem Hintergrund konnte der französische Staatspräsident eine mitgestaltende Rolle im Vereinigungsprozess ausüben, indem er erfolgreich auf die rasche Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion drängte. Die britische Regierungschefin hingegen stand im Abseits, da sie innerlich die deutsche Vereinigung ablehnte, aber keinerlei Strategien zu entwickeln wusste, um diesen Prozess zu beeinflussen. Herausgeber Frédéric Bozo räumt in seinem Aufsatz mit der Auffassung auf, dass Mitterrand die Kooperation der Sowjetunion gesucht habe, um die deutsche Einheit zu verzögern oder gar zu verhindern. Zu keinem Zeitpunkt hätten Gorbatschow und Mitterrand eine übereinstimmende Analyse der europäischen Lage geteilt, welche die Basis für partnerschaftliches Handeln hätte bieten können.
Natürlich wird der in der Einleitung angedeutete Anspruch, eine Neuinterpretation der französischen Position zur deutschen Frage zu liefern, nicht in allen Abschnitten des Sammelbandes eingelöst, denn manche Beiträge fassen einen seit längerem etablierten Forschungsstand knapp und kompetent zusammen. Insofern kann "France and the German Question" als ein Handbuch gelten, das jedem, der sich mit diesem Grundthema der Nachkriegszeit befassen möchte, wärmstens zu empfehlen ist.
Anmerkung:
[1] Vgl.: Frédéric Bozo: Mitterrand, la fin de la guerre froide et l'unification allemande. De Yalta à Maastricht, Paris 2005; Maurice Vaïsse / Christian Wenkel (Hgg.): La diplomatie française face à l'unification allemande, Paris 2011. Vgl. auch meine Rezension in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: http://www.sehepunkte.de/2012/09/20680.html (letzter Zugriff am 02.11.2020).
Matthias Waechter