Sibylle Hambloch: Europäische Integration und Wettbewerbspolitik. Die Frühphase der EWG (= Schriftenreihe des Instituts für Europäische Regionalforschungen; Bd. 11), Baden-Baden: NOMOS 2009, 539 S., ISBN 978-3-8329-4485-8, EUR 89,00
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Tobias Witschke: Gefahr für den Wettbewerb. Die Fusionskontrolle der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und die "Rekonzentration" der Ruhrstahlindustrie 1950-1963, Berlin: Akademie Verlag 2009
Albrecht Rothacher: Die Kommissare. Vom Aufstieg und Fall der Brüsseler Karrieren. Eine Sammelbiographie der deutschen und österreichischen Kommissare seit 1958, Baden-Baden: NOMOS 2012
N. Piers Ludlow: The European Community and the Crisis of the 1960s. Negotiating the Gaullist Challenge, London / New York: Routledge 2006
Marie-Thérèse Bitsch: Robert Schuman, Apôtre de l'Europe 1953-1963, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2010
Andreas Wilkens (Hg.): Wir sind auf dem richtigen Weg. Willy Brandt und die europäische Einigung, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2010
Lisa Murach-Brand: Antitrust auf deutsch. Der Einfluß der amerikanischen Alliierten auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) nach 1945, Tübingen: Mohr Siebeck 2004
Guido Müller: Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München: Oldenbourg 2005
Peter Langer: Macht und Verantwortung. Der Ruhrbaron Paul Reusch, Essen: Klartext 2012
Die Leitfrage dieses gewichtigen Buches - hervorgegangen aus einer von Gerold Ambrosius an der Universität Siegen betreuten Habilitationsschrift im Fach Wirtschafts- und Sozialgeschichte - lautet: Wie funktionierte Regieren im E(W)G-Institutionengefüge am Beispiel der Wettbewerbspolitik? Als Untersuchungszeitraum hat die Autorin die Jahre 1957 bis 1973 gewählt, eine für den Erfolg des Integrationsprojekts entscheidende Phase, in der die verschiedenen Akteure ihre Positionen und Kompetenzen definieren und mitunter auch verteidigen mussten. Theoretisch folgte sie dem in der Politikwissenschaft lange Zeit dominierenden Mehrebenen-Ansatz, der eine Verschiebung der Entscheidungsfindung in Richtung "Brüssel" konstatiert, ohne freilich die Bedeutung nationaler Einflüsse auf der europäischen Ebene leugnen zu wollen. Konsequenterweise konzentriert sich die Studie deshalb auf die Rekonstruktion der Interaktion zwischen den E(W)G-Organen; die Positionen der einzelnen Mitgliedsländer - und zwar aller sechs Gründerstaaten, nicht, wie oft üblich, nur der Bundesrepublik und Frankreichs - werden in der Form dargestellt, wie sie auf der europäischen Bühne präsentiert wurden, d.h. die vorherigen nationalstaatlichen Debatten und Entscheidungsprozesse bleiben weitgehend unberücksichtigt.
Grundlage der Arbeit sind sowohl unveröffentlichte als auch veröffentlichte Quellen. Erwähnt seien der Nachlass des damaligen Wettbewerbskommissars Hans von der Groeben im Archiv für Christlich-Demokratische Politik in Sankt Augustin, die Historischen Archive der Europäischen Kommission in Brüssel und der Europäischen Gemeinschaften in Florenz sowie die Privatnachlässe Ivo Schwartz und Arved Deringer, ersterer war ein enger Mitarbeiter von der Groebens, letzterer Mitglied des Europäischen Parlaments und Berichterstatter des Binnenmarktausschusses. Ergänzend führte die Autorin auch eine Reihe von Interviews mit für die Wettbewerbspolitik wichtigen Zeitzeugen durch. Eine wahrhaft breite Quellenbasis also, die neue Erkenntnisse verspricht.
Nach einer Erörterung der einschlägigen Theorieansätze der Forschung zur europäischen Integration, die in einen Katalog von 18 Forschungsfragen münden, umreißt Hambloch auf knapp 40 Seiten die Grundlagen der europäischen Wettbewerbspolitik einschließlich einer knappen, kontrastierenden Skizze der wirtschafts- und wettbewerbspolitischen Verhältnisse in den sechs Mitgliedsstaaten. Dabei verdeutlicht sie, dass der EWG-Vertrag "keiner einheitlichen wirtschaftspolitischen Konzeption" gefolgt, sondern als "Konglomerat aus verschiedenen Konzepten und Traditionen" zu begreifen sei (59). Ziel der Wettbewerbspolitik sollte es laut Präambel sein, einen "redlichen Wettbewerb zu gewährleisten", d. h., der Wettbewerb sollte "die Steuerungsfunktion im Wirtschaftsablauf" übernehmen (60).
Wie dieses Ziel verwirklicht wurde, zeigt Hambloch im zentralen Kapitel des Buches anhand von fünf Fallbeispielen zur Kartellpolitik, zur Regionalpolitik, zur Umsatzsteuerharmonisierung, zur Europäischen Handelsgesellschaft und zum Europäischen Patent. Hier gelingen der Autorin höchst differenzierte Analysen der Entscheidungsprozesse, die auch die Einflussversuche durch transnationale und nationale Unternehmerverbände und Gewerkschaften einschließen. Generell lässt sich feststellen, dass die Kommission durchaus darum bemüht war, diese Interessenverbände - übrigens auch Vertreter der Wissenschaft - in die Entscheidungsfindung einzubinden, ohne sich allerdings von ihnen abhängig zu machen. Den Abschluss bilden zwei bilanzierende Kapitel, in denen die eingangs formulierten Forschungsfragen erneut aufgegriffen und zusammenfassend beantwortet werden.
Dass die Wettbewerbspolitik von zentraler Bedeutung war und ist, steht außer Frage. Hambloch kann darüber hinaus aber auch zeigen, dass mit der Regelung des Wettbewerbsproblems zugleich, mit von der Groebens Worten, "das Grundsatzproblem der Zuständigkeit und Verantwortlichkeit der Institutionen der Gemeinschaft für die europäische Wirtschaftsordnung und die Regeln und Entscheidungen, die zu ihrer Verwirklichung notwendig sind" (113), in Angriff genommen werden musste.
Die Arbeit besticht durch Gründlichkeit und Genauigkeit bei der Rekonstruktion der wettbewerbspolitischen Initiativen und Aktivitäten der E(W)G-Kommission, sie vermittelt wichtige Einsichten in die Funktionsweise des Brüsseler Apparats. Durch die Kombination geschichts-, wirtschafts-, rechts- und politikwissenschaftlicher Ansätze und Perspektiven zeichnet sie ein vielschichtiges Bild des europäischen Einigungsprozesses. Kurz: nicht zuletzt auch dank der hilfreichen Grafiken, Organigrammen und Tabellen im Anhang etwa zu Entscheidungsverfahren, EWG-Instanzen und Personalbedarf ein wichtiger Beitrag zur Integrationsforschung.
Werner Bührer