Eberhard Ruschenbusch: Solon: Das Gesetzeswerk-Fragmente. Übersetzung und Kommentar (= Historia. Einzelschriften; Heft 215), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010, 168 S., ISBN 978-3-515-09709-3, EUR 46,00
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Isabella Tsigarida: Solon - Begründer der Demokratie? Eine Untersuchung der sogenannten Mischverfassung Solons von Athen und deren "demokratischer" Bestandteile, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006
Eberhard Ruschenbusch hat 1966 eine Edition der Fragmente der solonischen Gesetze veröffentlicht, die trotz mancher Kritik zur maßgeblichen Ausgabe wurde und es bis heute geblieben ist, obwohl Antonio Martina 1968 eine Edition aller Solontestimonia einschließlich der Gesetzesfragmente herausgegeben hat, die vollständiger und in der Systematik zurückhaltender ist. Es ist dem Frankfurter althistorischen Kollegen Klaus Bringmann zu verdanken, dass nach dem Tod Ruschenbuschs im Jahre 2007 das Manuskript mit den Übersetzungen und Kommentaren auf Ruschenbuschs Wunsch hin publiziert wurde.
Bringmann hat als Herausgeber des Manuskripts behutsam und umsichtig Ergänzungen vorgenommen, vor allem griechische Textstellen, auf die als Parallelen verwiesen ist, mit einer deutschen Übersetzung versehen. Vorangestellt hat er ein Vorwort, in dem er kurz über die Entstehung des Manuskripts, den Wunsch des Autors zur Publikation und den in manchen Passagen unfertigen Zustand Rechenschaft ablegt. Übersetzung und Kommentar beziehen sich auf die von Ruschenbusch für solonisch erachteten Gesetzesfragmente 1-93. Nicht einbezogen sind die Testimonia 1-33 zur Überlieferungsgeschichte und die 59 Fragmente (F 94-152), die von antiken Autoren Solon zugeschrieben wurden, doch nach Ansicht von Ruschenbusch in nachsolonische Zeit gehören.
Trotz dieser Beschränkung und manch strittiger Deutung hat die Publikation ihren Wert, weil sich Studierende auch ohne Kenntnisse des Griechischen einen guten Überblick über das solonische Gesetzeswerk verschaffen können und weil sich durch die Kommentare die Interpretationen und Deutungen Ruschenbuschs besser nachvollziehen lassen. Die Übersetzungen sind, auch wenn in wenigen Einzelfällen strittige Punkte bestehen bleiben, durchweg zuverlässig.
Die Übersetzungen und Kommentare folgen in der Systematik der Ausgabe von 1966. Einige wenige neue Fragmente meist byzantinischer Autoren sind ergänzt worden, doch weil sie "nichts Neues" ergeben, sind sie "weder abgedruckt noch übersetzt" worden (24, 29, 75). Hinzuweisen ist aber darauf, dass in der nun vorgelegten Publikation nicht der aktuelle Stand der Forschung wiedergegeben ist. Das lediglich drei Seiten umfassende Literaturverzeichnis enthält nur wenige Titel aus den letzten beiden Jahrzehnten. Zudem wird nur selten und unzureichend auf alternative Deutungen und Kontroversen hingewiesen. Befremdlich wirkt es, wenn Gegenpositionen summarisch als "irrig" oder Vertreter solcher Positionen als "völlig inkompetent" bezeichnet werden (21, 24, 28).
In vielen Punkten wird der Nutzer hilfreiche Erläuterungen finden und auf Parallelstellen aufmerksam gemacht. Nicht verschwiegen werden soll aber, dass nach Meinung des Rezensenten einige Positionen, die Ruschenbusch zu einzelnen Gesetze vertritt, historische Sachverhalte unzutreffend wiedergeben. Zwar geht Ruschenbusch zu Recht davon aus, dass der Areopag in der Zeit Drakons noch keine gerichtliche Instanz für Tötungsdelikte war (27f.). Die Übertragung gerichtlicher Kompetenzen bei Tötungsdelikten sei - so Ruschenbusch - erst in nachsolonischer Zeit von den Epheten auf den Areopag übertragen worden, der in Fällen vorsätzlicher Tötung Todesstrafen verhängte. Er unterscheidet dabei nicht strikt genug zwischen Blutracheverfahren und der drakontischen Regelung, die sich aus der Flucht in ein Schutz gewährendes Heiligtum ergab, auf der einen Seite und der Einrichtung von formalen Rechtsverfahren durch Solon, die mit einer Klage vor dem zuständigen Archonten begannen und einem Gericht überwiesen wurden, auf der anderen Seite. Dies führt Ruschenbusch auch zu der inzwischen überwiegend verworfenen Ansicht, dass in der Wiedergabe des drakontischen Gesetzes in IG I3 104 die ersten beiden Zeilen mit der Regelung der vorsätzlichen Tat ausgefallen seien, weil ein späteres Gesetz dafür die Todesstrafe angeordnet habe. Sehr viel plausibler ist, dass die vorsätzliche Tötung von Drakon nicht geregelt wurde, weil bei ihr die Blutrache gerechtfertigt schien. Hält man sich die Unterschiede beim Ablauf der Blutrache und bei den durch Solon eingerichteten Klagen bei Tötungen vor Augen, lassen sich die in den Quellen genannten Zitate in vielen Fällen eindeutig dem Recht Drakons oder Solons zuweisen. Die Edition von Ruschenbusch verunklart diesen Befund, indem unsystematisch Belege für das solonische Recht (F 1-4, F 7-8, F 11-12) mit denen für das drakontische Recht (F 5-6, F 10, F 14) gemischt werden. Nicht überzeugend ist auch die Ansicht, dass erst dann ein Verfahren vor den Epheten stattfand, wenn die Familienangehörigen des Getöteten die Annahme eines Wergelds verweigert hatten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass derjenige, der ohne Vorsatz, berechtigt oder versehentlich getötet hatte, in ein Schutz gewährendes Heiligtum floh, um die Blutrache der Angehörigen zu unterbrechen, anschließend die Epheten darüber entschieden, wie die Tat zu qualifizieren sei, und der wegen unvorsätzlicher Tötung für schuldig Befundene nach seiner Flucht aus Attika mit der Familie des Getöteten in Verbindung trat, um eine Versöhnung zu erreichen.
Bedenken sind auch gegen die Meinung vorzubringen, das umstrittene Stasisgesetz (F 38) sei als unecht zu verwerfen, da die Strafklausel nicht mit der Terminologie der solonischen Gesetze in Einklang zu bringen sei. Mit dem Literaturhinweis "allein lesenswert Bleicken 1986, 9ff." verschweigt Ruschenbusch eine intensive und kontroverse Forschungsdebatte zu diesem Thema.
Einen großen Anteil an den Fragmenten des solonischen Gesetzwerks haben die Bestimmungen zum Familienrecht. Ruschenbusch ordnet diese Bestimmungen in einen Überblick über die Regeln des Erbrechts ein, der in seinen Grundzügen zutreffend ist. Kritisch zu werten ist indes seine These, homométrios sei in F 47b auf Vollgeschwister und nicht auf Halbgeschwister mütterlicherseits zu beziehen. Dies scheitert allein schon an dem bei Philon folgenden Hinweis, dass in Sparta umgekehrt die Ehe unter Halbgeschwistern mütterlicherseits gestattet, die unter Halbgeschwistern väterlicherseits untersagt war. Auch lässt sich aus lex ap. Demosth. or. 43,51 (F 50b) nicht ableiten, dass die Frau in Athen "erbberechtigt" sei, "jedoch erst nach den Männern" (105). Vielmehr sagt das Gesetz nur, dass das Erbe über eine Frau an einen männlichen Nachfahren vermittelt werden kann.
So nützlich die Vorlage einer Übersetzung der Fragmente für die weitere Diskussion über die solonischen Gesetze ist, sollte dem Leser doch bewusst sein, dass Ruschenbusch in seinen Kommentaren nur eine von mehreren möglichen Interpretationen vorlegt und man gut beraten ist, über Ruschenbuschs Werk hinaus die Forschungsdiskussion umfassender zur Kenntnis zu nehmen.
Winfried Schmitz