Peter Dinzelbacher: Deutsche und niederländische Mystik des Mittelalters. Ein Studienbuch, Berlin: De Gruyter 2012, XI + 424 S., ISBN 978-3-11-022137-4, EUR 29,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Natalija Ganina: 'Bräute Christi'. Legenden und Traktate aus dem Straßburger Magdalenenkloster. Edition und Untersuchungen, Berlin: De Gruyter 2016
Maria Husabo Oen / Unn Falkeid (eds.): Sanctity and Female Authorship. Birgitta of Sweden and Catherine of Siena, London / New York: Routledge 2019
Jörg Gabriel: Rückkehr zu Gott. Die Predigten Johannes Taulers in ihrem zeit- und geistesgeschichtlichen Kontext. Zugleich eine Geschichte hochmittelalterlicher Spiritualität und Theologie, Würzburg: Echter Verlag 2013
Peter Dinzelbacher: Warum weint der König? Eine Kritik des mediävistischen Panritualismus, Badenweiler: Wissenschaftlicher Verlag Bachmann 2009
Peter Dinzelbacher: Structures and Origins of the Twelfth-Century 'Renaissance', Stuttgart: Anton Hiersemann 2017
Peter Dinzelbacher: Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen: Magnus Verlag 2006
Drei Mal setzt Peter Dinzelbacher an, um den Gegenstand seines Werks zu erläutern: Mystik ist 1. "auf Erfahrung gegründete Gotteserkenntnis" (7), 2. "Streben des Menschen nach unmittelbarem Kontakt mit Gott vermittels persönlicher Erfahrung schon in diesem Leben sowie seine Empfindungen und Reflexionen auf diesem Weg und endlich die Erfüllung dieses Strebens", 3. "zentral bestimmtes [...] religiöses Erleben", bestehend "in der kurzfristigen Aufhebung des Unterschiedes zwischen dem Subjekt des religiösen Strebens, der menschlichen Seele, und dem Objekt, das angestrebt wird, Gott" (8). Sein Buch stellt Zeugnisse der so umrissenen charismatischen Spiritualität aus dem Reich zusammen und greift dabei vergleichend auf wichtige Exponenten außerhalb des Untersuchungsgebiets aus. Mystische Erfahrungen und Reflexionen werden als historisch bedingte Phänomene betrachtet, für deren Entstehung Dinzelbacher eine "reflektierte Individualität" (14, 112, 266), eine "neue Gewichtung des emotionellen Bereichs" (14, 18), die Tätigkeit der Bettelorden (23, 151), aber auch persönliche Lebensumstände, Traumatisierungen, Krankheiten, strenge Askese (28, 366-367) sowie in philosophischer Hinsicht den Nominalismus in Anschlag bringt (267). Referiert werden in Kurzform Herkunft und Vita, Werkinhalte mit exemplarischen, teils übersetzten, teils orthographisch vereinfachten Textbeispielen und die historische Wirkung. In der Zusammenschau werden Braut- und Passionsmystik, die Imitatio Mariae, die Liturgie, die Sorge für die Armen Seelen und die Herz-Jesu-Verehrung als verbreitete Kristallisationspunkte ersichtlich. Als Formen des Erlebens treten neben Ekstasen und den Empfang der Stigmata (9, 74) "Träume, Auditionen, Erscheinungen, Lichtphänomene, Süßigkeit, Unionserfahrungen" (145, zu Dominikanerinnen).
Der große Reiz und die Leistung des Buchs liegen darin, dass neben den Quellen im Sinne des zugrunde gelegten Mystik-Begriffs auch visionäre, literarische und philosophische Texte berücksichtigt werden, die die erlebte Einheit mit Gott thematisieren oder mit deren zeitgenössischen Vermittlungsformen verwandt sind. Enthalten sind etwa ausführliche Abschnitte auch zu Hildegard von Bingen und Elisabeth von Schönau (47-66) bis hin zu Nikolaus von der Flüe (288-291), deren Zugehörigkeit Dinzelbacher problematisiert, sowie zahlreiche kurze Hinweise auf weniger bekannte Autoren und Texte, die dem Leser jedoch ermöglichen, Material für neue Konzepte und eigene Teilgebiete zusammenzustellen.
Das Werk gliedert sich in einen Darstellungsteil, in dem Abschnitte zu "Überlieferungsträgern" (323-337) und "Forschungszugängen" (339-368) den Abschluss bilden, gefolgt von einem materialerschließenden Anhang (375-424). Der Darstellungsteil enthält Großabschnitte zum 12., 13., 14. und 15. Jahrhundert, die nach Ordenszugehörigkeit untergliedert sind. Enthalten sind jeweils eigene Unterabschnitte zur Frauenmystik, die sich durch die vorrangig für Frauen berichtete Umsetzung von Christusfrömmigkeit und Symbolsprache der Zeit in körperliches Erleben rechtfertigen (22, 113, 152, 163), während sich Männer mehr über geistliches Schrifttum ausdrückten. Mitunter wird die Grundstruktur durch beschreibende Begriffe überdeckt wie "Visionärer Symbolismus" (für Benediktinnerinnen des 12. Jahrhunderts), "Denkmystik" (für Dominikaner im 14. und Weltkleriker im 15. Jahrhundert) und "Gottesfreunde" (ein Straßburger Zirkel, hier verbunden mit einer Präsentation aller Verfasser Groenendaals). Der Verwurzelung in der mittelalterlichen katholischen Kirche, in Dinzelbachers Sicht eine Grundgegebenheit (3), trägt der Autor durch Hinweise auf von der katholischen Dogmatik abweichende oder ketzerische Äußerungen Rechnung (39, 120, 129, 240, 247, 303), insbesondere auch für Meister Eckhart (191-196). Zum 14. Jahrhundert wird ein Abschnitt "Deviante Mystik" eigens ausgewiesen (250-264). Den bei der Gliederung nach Zeit und Ordenszugehörigkeit unvermeidlichen Kompromissen wird man soweit folgen. Zur Fehlkonstruktion geriet allerdings das Kapitel "Mystik in der Devotio moderna" im Abschnitt zum 14. Jahrhundert (242-250), durch Hinweise auf Editionen und Lexikonartikel notdürftig auf den neuesten Forschungsstand gebracht, das Gerard Zerbolt van Zutphen (1367-1398) wenige Zeilen widmet (244) und bereits ausführlich Thomas von Kempen (1379/80-1471) und Wessel Gansfort (1419-1489) behandelt (245-248). Der Augustinereremit Heinrich von Friemar ist hier ebenso deplatziert eingeordnet (242) wie der Franziskaner Marquard von Lindau (249).
Dass mystische Erfahrungen durch die sprachliche - oder bildliche - Vermittlung auf eine neue Ebene gebracht werden, hat Dinzelbacher gesehen und im abschließenden, den Quellen und der Forschung gewidmeten Teil thematisiert (350). In den seltensten Fällen liegen tagebuchartige Aufzeichnungen im Autograph vor (145, 270, 351). Oft sind die erhaltenen Quellen Resultate eines komplexen Entstehungsprozesses mit mehreren Beteiligten und haben eine eigene kommunikative Funktion. In der Reihe "Typologie des sources du moyen âge occidental" hat Dinzelbacher selbst mit dem Band "Revelationes" (Fasc. 57, A-VI.D.3°) eine einschlägige Quellenkunde veröffentlicht. Inzwischen liegt auch der Band "The sermon" vor (Fasc. 81-83). Für die übrigen Textgattungen bieten Artikel im "Lexikon des Mittelalters" einen Einstieg in die Quellenkunde. Im vorliegenden Werk beschränkt sich der Abschnitt "Die Überlieferungsträger" (323-337) auf kurze, zusammenfassende Bemerkungen zu verschiedenen Textsorten und Bildern, wie sie dem Darstellungsteil zugrunde lagen. Ein "Studienbuch" im Sinne einer Einführung in das Studium der mittelalterlichen Mystik ist das Werk hier nicht - auch nicht im folgenden Kapitel "Forschungszugänge und ihre Problematiken" (339-368). Hier werden insgesamt acht Disziplinen vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf Informationen über deren Herangehensweise und einem Referat der Erträge als auf Mitteilungen über das Urteil des Autors. Bedauerlicherweise betrifft das auch den besonders ausführlichen und inhaltsreichen Abschnitt zur Psychologie (357-368), der zwar methodische Standards im Fach erwähnt (358), wonach berichtende Quellen unter bestimmten Voraussetzungen verwendet werden und die Anwendbarkeit psychologischer Modelle über historische Distanzen problematisiert wird, nicht aber die Kriterien vermittelt.
Dinzelbachers Werk fußt auf einer Vielzahl eigener Publikationen und soll seine Beschäftigung mit dem Thema beschließen (370). Seinen Standpunkt verortet er nach Kopernikus, Darwin, Feuerbach und Freud (1, 370). Neben die frömmigkeitsgeschichtliche Beschreibung gemäß der Intention der Akteure treten eine moderne sozial- und entwicklungspsychologische, mitunter auch psychopathologische Wahrnehmungsebene und eine Begrifflichkeit, die sich aus der Auffassung ergibt, Mystik sei innerpsychisch erklärbar (12, 370). Dass sich Dinzelbacher in einer Zeit, die auch die Geschichte der Gefühle schreibt, zudem auf das Motto des "sine ira et studio" des antiken Historiographen Tacitus verpflichtet (5), gehört zu den charakteristischen Ungereimtheiten. Mich hat das Werk durch seine breite Materialbasis, durch seine Vorschläge zur historischen Einordnung sowie die sprachlich gelungene Präsentation menschlicher Grenzerfahrungen besonders in den Anfangskapiteln und zum 15. Jahrhundert für sich eingenommen - und verärgert durch die fachlichen, aber auch syntaktischen und orthographischen Flüchtigkeiten.
Monika Costard