Benjamin Hasselhorn: Politische Theologie Wilhelms II. (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte; Bd. 44), Berlin: Duncker & Humblot 2012, 343 S., ISBN 978-3-428-13865-4, EUR 68,00
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Die Person des letzten deutschen Kaisers hat in jüngster Zeit ein breites Forschungsinteresse hervorgerufen. Über die politisch oft umstrittenen Handlungen Wilhelms II. und seine aus der körperlichen Behinderung abgeleiteten Repräsentationsformen bedarf seine religiöse Einstellung einer eingehenden Untersuchung. Nach Stefan Samerskis Sammelband aus dem Jahr 2001 widmet sich Benjamin Hasselhorn in seiner Berliner theologischen Dissertation den unterschiedlichen Facetten der Religiosität Wilhelms II. und stellt sie unter die Überschrift "Politische Theologie". Methodisch schließt er sich dabei an Carl Schmitt an, ergänzt um den Begriff der "charismatischen Herrschaft" (Max Weber) als "summus episcopus" der evangelischen Kirche, geschärft durch "soziale Mythen" (Georges Sorel).
Hasselhorn geht in einem ersten Durchgang den theologischen Prägungen Wilhelms nach. Er nennt den Erzieher Hinzpeter, seine Mutter und Ehefrau, die Großmutter Victoria von England, den Hofprediger Stoecker, Bismarck, den Grafen Eulenburg und seinen Großvater Wilhelm I. Diese disparaten Prägungen verbanden sich beim jungen Kaiser zu einer Überzeugung von seinem politischen Amt, das "ausdrücklich auch mit einem religiösen Auftrag verbunden sei" (61).
Das Selbstverständnis als Herrscher wurzelte für Wilhelm in der Überzeugung vom Gottesgnadentum. Die Sakralität des Königtums machte ihn, wie er sich ausdrückte, zum "Herrn der Mitte" mit dem Auftrag zur Integration. Deshalb musste die Monarchie sich auch sozial geben - als Unterstützerin der Arbeiterschaft, nicht jedoch der Sozialdemokratie. Deshalb sah sich Wilhelm II. als Hüter des Glaubens nicht nur für den protestantischen, sondern auch für den katholischen Bevölkerungsteil. Seine Religionspolitik bezog dabei auch die jüdischen Bürger ein, was zu einer Spannung zwischen persönlich antisemitischen Anschauungen und judenfreundlicher Amtsführung beitrug.
Wilhelm II. praktizierte seinen Summepiskopat in seinem Bemühen um Integration der verschiedenen Parteien der evangelischen Kirche, ohne deren Selbstständigkeit einzuschränken. Er setzte die Berufung Adolf Harnacks an die Berliner Universität durch, von dem er sich auch im Apostolikumsstreit nicht distanzierte. Er griff in den Babel-Bibel-Streit von 1903 ein, indem er einerseits die Forschungsergebnisse der Orientalisten würdigte, andererseits eine Unterscheidung zwischen einer religiösen und einer historischen Offenbarung einbrachte. Wichtige Inspirationen bezog Wilhelm aus seiner Bekanntschaft mit Houston Stewart Chamberlain, mit dem er einen intensiven Briefwechsel pflegte.
Von Chamberlain beeinflusst war auch die politische Mythologie Wilhelms II. Hasselhorn analysiert sie anhand des Bemühens, den Reichsgründer Wilhelm I. mit dem Beiwort "der Große" zu versehen. Die Errichtung von Kaiser-Wilhelm-Denkmälern in Konkurrenz zu Bismarck-Denkmälern und die Anwendung des Barbarossa-Nationalmythos auf "Barbablanca" war in Maßen erfolgreich. Wilhelm II. sah sich ausdrücklich in der Tradition des mittelalterlichen Kaisertums, was in der Wiederherstellung von Nationaldenkmälern wie der Marienburg und den Pantokrator-Motiven in den vom Kaiser geförderten Kirchbauten zum Ausdruck kommt. Die Beschwörung des Germanentums durch die jährlichen Nordlandfahrten und die Begeisterung für Wagner-Opern führten schließlich zur Idee eines deutschen Weltreiches, das unter dem himmlischen Schutz des Nationalheiligen, des Erzengels Michael, stehen sollte. Hasselhorn resümiert: "Der christliche Charakter sowohl der nationalen Einheit nach innen wie auch der Einigung Europas nach außen wurde durch die Verwendung Erzengel Michaels besonders betont." (231)
Die von Hasselhorn mit vielen Beispielen aus Ansprachen Wilhelms gut herausgearbeitete, in sich konsistente politische Theologie des Kaisers erfuhr einen Bruch durch den Ersten Weltkrieg. Den Krieg stilisierte er zunehmend als apokalyptisches Ereignis im Kampf des Guten gegen das Böse. Die Abgabe der Verantwortung an die Oberste Heeresleitung und die Flucht nach Holland brachten "endgültig das politisch-theologische Gebäude zum Einsturz [...], das der Kaiser in den Friedensjahren aufgebaut hatte" (256).
Aus dem Exil stammen allerdings weitere theologische Reflexionen des Ex-Kaisers. So nahm er das Motiv der Opferung des Königs auf, veröffentlichte kulturkritische Aufsätze, vor allem zum Alten Testament und dessen religionsgeschichtlichem Umfeld, die ihn zu der Auffassung führten, dass Deutschland eigentlich dem Morgenland zuzurechnen sei und deshalb von der pessimistischen Kulturanalyse Oswald Spenglers vom "Untergang des Abendlandes" nicht betroffen werde. Ganz auf der Linie der Kaiseridee lehnte Wilhelm denn auch völkische Religiosität, wie sie etwa die Deutschen Christen vertraten, ab.
Hasselhorn hat eine gut gegliederte, in sich stimmige Arbeit vorgelegt, die sich kritisch mit aktuellen Forschungspositionen, unter anderem John Röhls, auseinander setzt. Es gelingt ihm, die Verbindung von persönlicher Religiosität, herrscherlichem Selbstbild und Beeinflussung durch konservative Ratgeber und Freunde gut herauszuarbeiten. Eine wichtige Arbeit für das Verständnis des Deutschen Kaiserreichs!
Joachim Schmiedl