Michaela Maurer / Bernhard Schneider (Hgg.): Konfessionen in den west- und mitteleuropäischen Sozialsystemen im langen 19. Jahrhundert. Ein "edler Wettkampf der Barmherzigkeit?" (= Religion - Kultur - Gesellschaft. Studien zur Kultur- und Sozialgeschichtedes Christentums in Neuzeit und Moderne; Bd. 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 411 S., ISBN 978-3-643-12003-8, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Karolin Wetjen: Mission als theologisches Labor. Koloniale Aushandlungen des Religiösen in Ostafrika um 1900, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020
Richard Hölzl: Gläubige Imperialisten. Katholische Mission in Deutschland und Ostafrika (1830-1960), Frankfurt/M.: Campus 2021
Hubert Wolf: Die Nonnen von Sant'Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München: C.H.Beck 2013
Der wechselseitigen Prägung von Religion, Kultur und Gesellschaft ist die von Thomas K. Kuhn und Bernhard Schneider eröffnete Reihe gewidmet, deren erster Band auf eine Tagung des SFB 600 "Fremdheit und Armut" der Universität Trier zurückgeht. Um "Armenfürsorge und katholische Identität" ging es in dem vom Kirchenhistoriker Schneider verantworteten Teilprojekt. Caritas und Diakonie, so die Grundthese, werden "als Marker konfessioneller Identität und sogar als Teil konfessioneller Identitätsbildung" (16) betrachtet. In drei Sektionen nähern sich die Autorinnen und Autoren den west- und mitteleuropäischen Sozialsystemen im 19. Jahrhundert an.
"Semantiken und Diskurse" greifen auf Texte der kirchlichen Verkündigung und Publizistik zurück. Michaela Maurer (41-57) zeigt, dass die Sorge für Arme und Notleidende als wesentlicher Bestandteil des christlichen Glaubenslebens die Solidarität unter allen Menschen ausdrückte. In der katholischen Presse, so Ingmar Franz (59-93) wurde deutlich zwischen "würdigen" und "unwürdigen Armen" unterschieden. Während die ultramontane Presse vor allem den Barmherzigen Schwestern und den Vinzenzvereinen eine wichtige Rolle zuwies, befürwortete die katholisch-aufklärerische Presse eine Kooperation von Kirche und Staat. Thomas K. Kuhn (95-118) sieht den protestantischen Armutsdiskurs vor allem im Kontext der Diskussionen um die Innere Mission. Von Seiten der bürgerlichen Armenpflege wurde die konfessionelle Wohltätigkeit akzeptiert, solange sie sich, wie Wilfried Rudloff (119-140) ausführt, in ein öffentliches Wohlfahrtssystem einordnete.
"Offene und geschlossene Armenfürsorge" im internationalen Kontext untersucht die zweite Sektion. Aus seinen Studien zu Südbaden und der Saarregion gewinnt Christian Schröder (143-162) drei Grundoptionen für das Verhältnis von öffentlicher und konfessioneller Armenfürsorge: Kooperation - Konfrontation - Koexistenz. Beim Aufbau einer Wandererfürsorge im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hatten protestantische Akteure die Nase vorn, wie Beate Althammer (163-182) zeigen kann. In der Fürsorgeerziehung erwies sich das von Andreas Henkelmann (183-207) untersuchte Seraphische Liebeswerk als Vorreiter.
Die konfessionellen Antagonismen im Deutschen Reich stellten sich in anderen europäischen Ländern differenziert dar. In der Habsburgermonarchie kamen die Religionsgemeinschaften erst durch Kritik von außen zur Organisation sozialer Hilfe. Dabei, so Rupert Klieber (209-233), waren jüdische Sozialvereine proportional stärker vertreten als katholische und wurden auch die unierten Ostkirchen zu sozialen Initiativen angeregt. In Frankreich wurde nach Catherine Maurer (235-255) die Zusammenarbeit zwischen kommunalen und vor allem katholischen Fürsorgeeinrichtungen auch unter laizistischem Regime beibehalten. Dass öffentliche und private Initiativen unter veränderten politischen Verhältnissen je neu ausbalanciert werden mussten, zeigen Leen van Molle und Jan de Maeyer (257-282) am "belgischen Kompromiss", der den Katholiken half, ihre Identität zu bewahren und die katholische Säule zu stärken. Großbritannien führte 1834 eine staatliche Armengesetzgebung ein. Trotzdem waren die kirchlichen Initiativen laut Frances Knight (283-302) nach wie vor dominant und forderten am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Sozialreform heraus. Wie sich in Irland die Gewichte zwischen der Church of Ireland und der katholischen Kirche verschoben, arbeitet Dáire Keogh (303-322) heraus: Die katholischen Ordensgemeinschaften dominierten die Fürsorge für die Armen, während sich die Anglikaner auf Alten- und häusliche Pflege konzentrierten.
Die dritte Sektion untersucht "Armenfürsorge und Genderfrage". Im deutschsprachigen Katholizismus wurden nach der Untersuchung von Michaela Sohn-Kronthaler (325-349) Armenfürsorge und karitatives Handeln stärker weiblich konnotiert. Ute Gause (351-361) bestätigt diesen Befund am Beispiel Kaiserwerther Diakonissen, nicht ohne auf die "Diskrepanz zwischen Leitbild und Realisation" (361) hinzuweisen. Auf das Gegenbild des Kults um die Frau als Mutter, die "gefallene Frau", weist Rachel G. Fuchs (363-382) anhand französischer Diskurse hin. Ein Fazit ziehen zwei Beiträge: Karl Gabriel (385-401) blickt auf die Entwicklungen des deutschen Sozialstaats und sieht als große Herausforderung die Bedingungen des Markts. Und für Bernd Kettern (403-407) ist nicht Rekonfessionalisierung, sondern Identitätsvergewisserung das Programm der Zukunft. Dem kann auch Bernhard Schneider zustimmen, der in seiner Einleitung zudem auf die Interaktion von Religion und sozialer Schicht sowie die im Zusammenhang der Milieu-Diskussion bedeutsamen Konfliktlinien und die konfessionsübergreifende zentrale Rolle der Frauen in der Armenfürsorge hinweist, selbst wenn Schneider einer "Feminisierung des Katholizismus" im 19. Jahrhundert nur bedingt zustimmen kann.
Mit dem vorliegenden Sammelband ist aus kirchenhistorischer Perspektive ein runder Abschluss des Trierer SFB geglückt. Gleichzeitig kann man auf weitere Bände der neuen Reihe "Religion - Kultur - Gesellschaft" gespannt sein, deren internationaler und ökumenischer Ansatz interessante Forschungsergebnisse verspricht.
Joachim Schmiedl