Réjane Gay-Canton: Entre dévotion et théologie scolastique. Réceptions de la controverse médiévale autour de lImmaculée Conception en pays germaniques (= Bibliothèque d'Histoire Culturelle Du Moyen Âge; 11), Turnhout: Brepols 2011, 465 S., ISBN 978-2-503-54241-6, EUR 90,00
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Die an der Universität Genf eingereichte und - zu Recht - preisgekrönte Doktorarbeit von Réjane Gay-Caton bewegt sich im interdisziplinären Spannungsfeld von Theologie, Geschichte und Altgermanisitik. Sie beginnt mit den frühmittelalterlichen Kindheitsevangelien, offene Texte, an denen die Kopisten arbeiten und je eigene Akzente setzen, und endet mit den lebhaften Diskussionen, die das Konzilsdekret vom 17. September 1439 in der zweiten Hälfte des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts auslöste. Methodisch liegt der Fokus der Arbeit auf dem Text als Träger und Multiplikator von Ideen sowie auf den quellenkritischen Reflexionen der Autoren im Bezug auf das apokryphe Schrifttum, das das Fundament der mittelalterlichen Marienverehrung bildet. Konsequenterweise werden nicht nur Inhalte diskutiert, sondern stets auch die unterschiedliche Reichweite der Texte berücksichtigt, messbar unter anderem an der Zahl der im Mittelalter angefertigten Abschriften. Heute würden wir von Impakt reden.
Eingehend setzt sich die Verfasserin mit den theologischen Grundlagen (Erbsündenlehre) auseinander, ohne die die Kontroversen unverständlich blieben und auf die sich später Generationen von Makulisten und Immakulisten beziehen sollten (27-47). An die Auserwähltheit der Jungfrau Maria und die Reinheit ihrer Erzeuger (Anna und Joachim) glaubten beide Parteien, Befürworter wie Gegner. Allein die Immakulisten waren der Meinung, dass Maria frei vom Makel der Erbsünde war. Die Promotoren der Idee waren anfänglich die englischen Benediktiner. Von England aus verbreitete sie sich über Ordensnetzwerke auf dem Kontinent, trotz einflussreicher Widersacher wie Bernhard von Clairvaux aus dem Zisterzienserorden (49-89). An Schärfe gewann der Streit um Marias Unbefleckte Empfängnis indes erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts, als die Franziskaner für und die Dominikaner gegen die Idee Stellung bezogen (91-115). Dies war auch nicht die einzige Meinungsdifferenz zwischen den beiden Mendikantenorden.
Im zweiten Teil ihrer Arbeit geht Réjane Gay-Canton der Frage nach, welche Spuren die gelehrten Meinungsdifferenzen in den für Laien konzipierten Texten hinterließen. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen unter anderem die Mariengesänge und das Marienleben des Priesters Werner, das Marienleben des Walter von Rheinau und Werners des Schweizers sowie die Weltchronik des Heinrich von München. All diese Texte zeichnet aus, dass ihre Verfasser die Argumente der Theologen zwar kannten, sie aber nicht Stellung beziehen wollten. Aber sie trugen maßgeblich dazu bei, dass Marias Lebensgeschichte und die ihrer Eltern Anna und Joachim "zu einem festen Bestandteil der religiösen Kultur des christlichen Mittelalters" wurde (117-170). Die erste umgangssprachliche Stellungnahme für die Unbefleckte Empfängnis findet sich in den Schriften des Hermann von Fritzlar, der für einen Laie über außerordentliche Schriftkenntnisse verfügte. Die "Kirche der heiligen Christenheit" sei sich in diesem Punkt nicht einig, erklärte Hermann seinen Lesern. Darum könne man es mit der Empfängnis halten, wie man wolle (183-237). Auf Hermann von Fritzlar folgen Heinrich der Teichner, Peter von Reichenbach, Otto von Passau und Marquard von Lindau. Die Idee der Unbefleckten Empfängnis habe in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gewaltig an Terrain gewonnen: nicht nur im frömmigkeitstheologischen Schrifttum, sondern gattungs- und milieuunabhängig. Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts seien die Dominikaner die einzigen, die als Gruppe weiterhin an der Idee der Befleckten Empfängnis festhielten (237-314).
Der dritte Teil der Arbeit schließlich ist den Medien gewidmet, die an der Verbreitung der Ideen in Laienkreisen mitgewirkt haben. Besondere Aufmerksamkeit gilt den frömmigkeitstheologischen Schriften der so genannten Wiener Schule, eine zentrale Schaltstelle in der Vermittlung gelehrten Wissens an die illiterati (Laien und Latein unkundige Kleriker und Religiose). Analysiert werden unter anderem die Schriften Heinrichs von Langenstein, Johanns von Retz und Nikolaus' von Dinkelsbühl sowie die weniger bekannten Predigten des Franziskaners Johannes Bischoff und das Marienleben des Heinrich von Sankt Gallen. Nicht alle Makulisten, so das lehrreiche Fazit, seien Dominikaner gewesen und nicht alle Dominikaner Makulisten. Dennoch hätten sich die Mehrzahl der Autoren im 15. Jahrhundert mit unterschiedlichen Argumenten für die Unbefleckte Empfängnis ausgesprochen, aber keiner von ihnen habe, was dieselben Argumente anbelangt, wirklich neue Wege beschritten (326-363).
Gabriela Signori