Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs (Hg.): Archivpflege und Archivalienschutz. Beispiel der Familienarchive und "Nachlässe" (= Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs; 56), Innsbruck: StudienVerlag 2011, 810 S., ISBN 978-3-7065-5140-3, EUR 49,20
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"In Österreich ist [...] in den letzten Jahrzehnten von archivischer Seite allerdings sehr wenig für eine benützerfreundliche Orientierung der Forschung in Hinblick auf Familienarchive und "Nachlässe" geschehen [...]."(9) - so stellt es Michael Hochedlinger in seinem Vorwort zu Beginn dieses thematischen Sammelbandes fest. Insbesondere existiert in Österreich noch keine Gesamtübersicht aller zu dieser Gruppe gehörenden Bestände. Eine Tatsache, die ein fachübergreifendes Projekt der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs jetzt ändern soll. Den Projektbeginn nahm das Österreichische Staatsarchiv im Jahr 2011 zum Anlass, in seinem thematischen Jahresband einen Überblick über die bisherigen Tendenzen der Archivpflege der Privatarchive, über die Arbeit mit Nachlässen und den Archivalienschutz in allen österreichischen Archiven zu geben.
Ausführlich und detailreich führt der Staatsarchivar Michael Hochedlinger zunächst in die beiden Themenschwerpunkte "Archivpflege und Archivalienschutz" ein, die er als "Schnittmenge" zwischen der Frage nach amtlichen Archivalien bzw. Schriftdenkmalschutz auf der einen und dem privaten Archivgut (d.h. hier Familienarchive und schriftliche Nachlässe) auf der anderen Seite begreift (9). Auffallend sind bereits an dieser Stelle Begriffsproblematiken. Es erscheint doch recht seltsam, "Kassation" als Gegenpol zu "Archivpflege" bzw. als "negative Archivpflege" darzustellen (14). Darüber hinaus ist in Österreich ein Begriff wie "Schriftdenkmal" durchaus möglich, wobei nicht alle Archivalien Schriftdenkmäler sein können und umgekehrt.
In einem zweiten Beitrag gibt Michael Hochedlinger einen Überblick über die Geschichte von Adelsarchivpflege und den Archivalienschutz in Österreich insgesamt. Als bedeutendes Ereignis für die Entwicklung der Familien- und Adelsarchive in Österreich ist mit Sicherheit die Auflösung der Herrschaftsarchive nach 1848 anzusehen. Nach der Zentralisierung der Herrschaftsrechte in Wien begann man nun auch die zugehörigen Akten in zentralen Archiven unterzubringen. Darüber hinaus ist das in den 1920er Jahren etablierte Archivamt als eine der zentralen Institutionen in der österreichischen Archivgeschichte zu bezeichnen. Hier wurde - wenn auch nur für kurze Zeit - die Archivpflege in Österreich auf professionelle Füße gestellt.
Auf diesen allgemein gehaltenden Beitrag über die österreichische Archivgeschichte folgt ein anschaulicher Bericht zum rechtlichen Kontext von Familienarchiven und Nachlässen in Österreich. Nikolaus Kraft erläutert zunächst die regionale Rechtsgeschichte, aus der sich die heutigen Verhältnisse ergeben. Explizit stellt er die Bedeutung des Denkmalschutzgesetzes in Österreich heraus, das neben dem Bundesarchivgesetz eine der wichtigsten überregionalen Grundlagen für die private Archivpflege darstellt. Da aber per definitionem gerade Familienarchive meist nicht vollständig unter das eine oder andere Gesetz fallen, liefern beide Rechtsgrundlagen der öffentlichen Hand nur wenig Handlungsmöglichkeiten und können einen möglichen Verkauf u.a. selten verhindern.
Nach dem Beitrag Krafts folgen Berichte aus Einrichtungen des Österreichischen Staatsarchivs,[1] des österreichischen Landesarchive[2] und Archiven wissenschaftlicher Einrichtungen in Österreich.[3] Alle geben einen Überblick über die Überlieferungsbildung in ihrem jeweiligen Archiv im Bereich Familienarchive und Nachlässe und setzen sich thematisch mit den Begriffen "Archivalienschutz" und "Archivpflege" auseinander. Anschließend gewähren zwei Adelsarchive, die als Familienarchive geführt werden, einen Einblick in die Zusammensetzung ihrer Bestände. Während die von Hoyos'schen Archive für ein abgeschlossenes, also rein historisches Archiv stehen, wird mit dem Archiv der regierenden Fürsten von Liechtenstein ein Archiv vorgestellt, das aktuell noch stetig Zuwachs erhält. Bei der Verwaltung dieses Archivs ist also einerseits nach der Behandlung der "Neuzugänge" zu fragen, andererseits nach der Grenze zum eigentlichen Staatsarchiv.
Es folgen Darstellungen über die Situation von Familienarchiven und Nachlässen in der Tschechischen Republik, Slowenien und Galizien, also in Ländern, die vor 1918 zu Österreich gehört haben. Weitere Beiträgen bieten eine europäische Perspektive und stellen u.a. die Adelsarchivpflege und die Bearbeitung von Nachlässen in Belgien, Bayern, Frankreich und Großbritannien vor.
Bei dem vorliegenden Sammelband handelt es sich vor allem um ein Werk für das österreichische Archivwesen. Interessant sind zunächst die Begrifflichkeiten "Archivpflege" und "Archivalienschutz", die das zusammenfassende Oberthema des Bandes darstellen. Sie werden gleich zu Beginn von Michael Hochedlinger ("Terminologie-Probleme-Leistungen",11-39) detailliert erklärt. Hier wird die Schwierigkeit deutlich, die sich beim Versuch einer Abgrenzung beider Begrifflichkeiten voneinander ergibt: Unter dem Begriff "Archivpflege" versteht Hochedlinger deutlich die Pflege, d.h. den Aufbau, den Erhalt und die Zugänglichmachung eines Archivs. Die Bedeutung des Begriffes "Archivalienschutz" als Schutz vor Entfremdung (sei es von außen durch Krieg oder staatliche Stellen,[4] sei es von innen durch den Privateigentümer selbst im Bezug auf Verkauf und Vernachlässigung) wird an dieser Stelle jedoch nicht klar herausgearbeitet. Die Differenzierung zur "Archivpflege" bleibt eher im Dunkeln, und im Folgenden werden beide Begriffe an vielen Stellen nahezu synonym gebraucht und verstanden. Besonderen Wert legt Hochedlinger auf den Quellenwert der Nachlässe und der Familienarchive, der im gesamten Sammelband besonders fokussiert wird.
Mit diesem thematischen Sammelband wendet sich das österreichische Staatsarchiv dem nichtstaatlichen oder nichtamtlichen Archivgut zu, wie es in der deutschsprachigen Archivwissenschaft in den letzten Jahren immer öfter getan wurde.[5]
Als wichtig hervorzuheben ist in jedem Fall der juristische Beitrag, der die besondere Stellung von Schriftgut bzw. Archiv im Österreichischen Denkmalschutzgesetz präsentiert - ein zentraler Aspekt, der die Archivpflege in Österreich vielfältig beeinflusst, letztendlich als nachhaltige gesetzliche Grundlage. Sehr schön herausgearbeitet ist die Bedeutung der Familien und Adelsarchive für die österreichische Archivlandschaft insgesamt. Der Ausblick in die anderen Länder Europas ermöglicht einen Einblick auf andere Traditionen und historische Voraussetzungen und den daraus resultierenden Entwicklungen der Überlieferung von nichtstaatlichem Archivgut. So konnte in Großbritannien und Frankreich u.a. eine Archivpflege entstehen, die das nichtstaatliche Archivgut der Familienarchive und Nachlässe fast vollständig in das nationale Archivwesen integriert hat.
Ausgehend von der eingangs (9) geschilderten eher unterentwickelten Archivpflege in Österreich v.a. im Bezug auf Familienarchive und Nachlässe bleibt abschließend zu hoffen, dass dieser Sammelband die Grundlage für eine neue, strukturierte Archivpflege in Österreich sein wird. Mit der Einrichtung des Projekts für ein Kataster der nichtstaatlichen Archive und ihrer Bestände in Österreich ist ein erster Meilenstein gesetzt.
Anmerkungen:
[1] Hier im Einzelnen das Haus-Hof und Staatsarchiv, das Kriegsarchiv, das allgemeine Verwaltungsarchiv.
[2] Hier im Einzelnen das Steiermärkische Landesarchiv, das Niederösterreichische Landesarchiv, das Kärntener Landesarchiv, das Stadt- und Landesarchiv Wien, das Salzburger Landesarchiv, das Burgenländische Landesarchiv.
[3] Hier im Einzelnen das Archiv der Universität Wien, die österreichische Nationalbibliothek in Wien.
[4] Norbert Reimann: Kulturgutschutz und Hegemonie. Die Bemühungen der staatlichen Archive um ein Archivalienschutzgesetz in Deutschland 1921-1971, Münster 2003.
[5] Vgl. u.a. Marcus Stumpf / Katharina Tiemann (Hgg.): Nichtamtliches Archivgut in Kommunalarchiven. Teil 2: Bestanderhaltung, Dokumentationsprofil, Münster 2012.
Antje Diener-Staeckling