Johan van Merriënboer: Mansholt. A biography, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2011, 643 S., 51 s/w-Abb., ISBN 978-90-5201-757-0, EUR 42,80
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Der niederländische Agrarpolitiker Sicco Mansholt ist sicherlich eine der schillerndsten Gestalten in der Geschichte der europäischen Einigung: Großbauer, Aufseher einer Plantage auf Java, Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs, als niederländischer Landwirtschaftsminister von 1945 bis 1958 auch Vorreiter der Entwicklungshilfe, als erster europäischer Agrarkommissar von 1958 bis 1972 Befürworter einer industriellen Landwirtschaft, dann die Wandlung zum Kritiker derselben und schließlich Liebhaber der deutschen Öko-Aktivistin Petra Kelly. Genügend Stoff für eine umfassende biographische Würdigung, befand Johan van Merriënboer, Parlamentshistoriker an der Radboud Universiteit Nijmegen. Seine zuerst 2006 in den Niederlanden erschienene Dissertation über Mansholt liegt nun auch in englischer Übersetzung für einen breiten Leserkreis vor.
Merriënboer stützt sich bei seiner Biographie auf archivalische Quellen niederländischer und europäischer Provenienz, Veröffentlichungen Mansholts, seiner Weggefährten und Gegenspieler sowie auf Gespräche mit denselben. Merriënboers Herangehensweise ist unbeeindruckt von der Diskussion, die seit den 1960er Jahren mit unverminderter Energie über den Nutzen geschichtswissenschaftlicher Biographien geführt wird [1]. Der Autor macht in der Einleitung deutlich, dass er der historistischen Herangehensweise folgen will, wonach große Männer Geschichte machen. Dabei ist sich der Autor offenbar bewusst, dass sich der Leser daran stören könnte, denn charmant schließt er die Einleitung mit dem Hinweis: "Reader, you have been warned." (23)
Entsprechend dieser Prämissen ist Merriënboers Studie chronologisch angelegt, Mansholts Leben von dem Karrierehöhepunkt als europäischer Agrarkommissar aus interpretiert. Am Beginn steht die Herkunft Mansholts aus der Schicht der geographisch und sozial mobilen, kapitalistisch-unternehmerisch handelnden nordniederländischen Großbauern. Von dieser sozioökonomischen Basis aus entwickelte Mansholts Familie eine bemerkenswerte intellektuelle Beweglichkeit. So bekannten sich Mansholts Eltern zum Sozialismus. Anschließend werden seine landwirtschaftliche Ausbildung und seine Tätigkeit als Aufseher einer Plantage auf Java geschildert. Daraufhin wird Mansholt als selbstständiger Landwirt im Wieringermeer-Polder seit 1937 beschrieben. Es folgt die Darstellung der Rolle Mansholts im Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Dieser Abschnitt zeigt, dass Mansholts später als Agrarkommissar propagierte Ziele bereits in dieser Zeit voll entwickelt waren. Deren sozialistischer Charakter hätte indes besser herausgearbeitet werden müssen, wie überhaupt eine Beschäftigung mit der Geschichte der sozialistischen Agrarpolitik fehlt. Dies wäre aber nötig gewesen, um den vermeintlichen Widerspruch zwischen Mansholts sozialistischer Überzeugung und seiner Tätigkeit als unternehmerischer Landwirt in der sozialistischen Zukunftserwartung von der großbetrieblichen Entwicklung der Landwirtschaft aufzulösen. Mansholts agrarpolitische Vorschläge waren dahingehend sozialistisch, dass er sich dabei auf die Ausgabenseite konzentrierte. Seiner Ansicht nach mussten die Produktionskosten gesenkt werden und nicht die Einnahmen erhöht, was nur die Verbraucher belastete. Deshalb kam er zu der Forderung nach größeren, da produktiveren Betriebseinheiten [2]. Darin bestand für ihn das Idealbild einer mit dem Gemeinwohl verträglichen Agrarpolitik. Diese war tiefer in sozialistischer Theorie verankert, als Merriënboer klar ist, wenn er dazu neigt, Mansholts Postulate entsprechend seines personenzentrierten Ansatzes als eigenständiges Programm darzustellen.
Im Anschluss daran beschreibt Merriënboer, wie sich Mansholt als niederländischer Agrarminister als Wahrer landwirtschaftlicher Belange gerierte, wobei er sich zugunsten eigener Machtpolitik von seiner sozialistischen Zukunftsvision entfernte - eine interessante Beobachtung, die bezeichnend ist für das Selbstverständnis nicht nur des niederländischen Landwirtschaftsministeriums [3]. Merriënboer schreibt dieses Phänomen nicht den eigenständigen institutionellen Interessen des Landwirtschaftsministeriums zu. Deshalb fehlt auch eine sozialstrukturelle Analyse der Zusammensetzung der Agrarbeamtenschaft, die zur Beantwortung der Frage nach dem agrarpolitischen Gebaren desselben nötig gewesen wäre. Stattdessen findet sich die eher verschleiernde Schlussfolgerung: "[...] wide powers for the top civil servants, the right people in the right jobs" (260).
Um den Erfordernissen zeitgemäßer Biographik zu entsprechen, wäre es überhaupt nötig gewesen, Taktik und Postulate Mansholts stärker von den ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen her zu interpretieren. Dieser Vorwurf gilt auch für die Darstellung von Mansholts Amtszeit als europäischer Agrarkommissar. Anschaulich gelingt es Merriënboer jedenfalls, die Kämpfe darzustellen, die Mansholt als Verfechter einer supranationalen Einigung Europas mit den im nationalstaatlichen Denken verhafteten Politikern ausgefochten hat. Wertvoll sind die Einblicke in die Entwicklung einer sich entfaltenden europäischen Institutionenwelt. Zuzustimmen ist Merriënboer, wenn er in der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik einen wesentlichen Faktor des Gelingens europäischer Zusammenarbeit sieht. Ansonsten bringt Merriënboers Darstellung in agrarpolitikgeschichtlicher Hinsicht wenig Neues. Von besonderem Interesse ist jedoch der Hinweis, dass die landwirtschaftlichen Überschüsse seit dem Ende der 1960er Jahre nicht zuletzt deshalb als Problem erschienen, weil sie einer veränderten Deutung unterworfen wurden (505). Leider wird dies nicht weiter ausgeführt.
Am Schluss des Bandes wird Mansholts Leben nach seinem Rückzug aus dem Amt des Agrarkommissars 1972 dargestellt, vor allem seine Wende zum Kritiker einer industrialisierten Landwirtschaft, vollzogen unter dem Eindruck der vom Club of Rome 1972 veröffentlichten Studie "Die Grenzen des Wachstums".
Merriënboers flotter Stil macht das Buch gut lesbar, was freilich nicht zuletzt auch auf das spannende Leben Mansholts zurückzuführen ist. Zuträglich ist der Lesbarkeit auch die Tatsache, dass Merriënboer die Person Mansholts nie aus den Augen verliert und seine Darstellung sich nie in den Details der europäischen Agrarpolitik verfängt, gemäß der in der Einleitung gegebenen Prämisse: "My choice is more Mansholt and less politics." (19). Die Kosten dafür sind indes hoch. Die Agrarpolitik als das zentrale Arbeitsfeld Mansholts kommt oft zu kurz. Trotzdem bietet der Band wertvolle Aufschlüsse über die Funktionsweise europäischer Agrarpolitik und viele Anknüpfungspunkte für die Beantwortung der nur angerissenen Frage nach dem Verhältnis zwischen den gemeinsamen europäischen Agrarinstitutionen in Brüssel und den nationalen agrarpolitischen Akteuren.
Anmerkungen:
[1] Olaf Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999.
[2] Hans Georg Lehmann: Die Agrarfrage in der Theorie und Praxis der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Vom Marxismus zum Revisionismus und Bolschewismus, Tübingen 1970.
[3] Vgl. dazu das bundesdeutsche Beispiel, analysiert von Ulrich Kluge: Vierzig Jahre Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland Bd. 1, Hamburg 1989.
Johann Kirchinger