Hilde Schramm: Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux: 1882-1959. Nachforschungen, Reinbek: Rowohlt Verlag 2012, 432 S., ISBN 978-3-498-06421-1, EUR 19,95
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Wenn sich im Januar 2013 Hitlers 'Machtergreifung' zum 80. Mal jährt, wird daran in sämtlichen Medien erinnert werden. Dass im selben Monat des Jahres 1933 mit Dora Lux eine bemerkenswert unangepasste Frau die Redaktion der linksliberalen Zeitschrift Ethische Kultur übernahm, gehört hingegen zu jener Kategorie von Ereignissen, die gewöhnlich im Schatten der Geschichte bleiben. Doch Hilde Schramm hat nun in Form einer erhellenden Studie ihrer ehemaligen Lehrerin ein Denkmal gesetzt.
Welche Motive bewegten die Erziehungswissenschaftlerin Schramm, sich auf diese ungewöhnliche Spurensuche zu begeben? Zunächst ist es reine Sympathie und Anerkennung für eine Pädagogin, die ihre angehenden Abiturientinnen im Rahmen des Geschichtsunterrichts der 1950er Jahre stark geprägt hat. Zweitens soll einem Menschen, der unter dem Nationalsozialismus gelitten hat und von dem bis auf einige Briefe keine Dokumente zum eigenen Leben geblieben sind, eine Stimme verliehen werden. Schramm hebt in dem Zusammenhang das Missverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Selbstzeugnissen hervor, sie spricht vom gängigen "Unwichtignehmen der Biographie der Frau" (229), dem sie entgegenwirken möchte. Darüber hinaus schreibt sie Dora Lux einige außergewöhnliche Merkmale zu, die sowohl ihr berufliches als auch ihr privates Leben vor und während der Zeit des Nationalsozialismus betreffen. Schließlich deutet Schramm als 1936 geborene Tochter von Hitlers Lieblingsarchitekten und Rüstungsminister Albert Speer eine Art inneren Pflichtgefühls an, sich an der wissenschaftlichen Durchdringung des Dritten Reichs zu beteiligen, die in ihrem Falle "früh" begonnen habe und "nicht abschließbar" (11) sei.
Dora Lux geb. Bieber war allein aufgrund ihrer Lebensdaten eine besondere Zeitzeugin, gehört sie doch einer Generation an, die mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, der NS-Diktatur sowie der jungen Bundesrepublik gleich vier markante Abschnitte deutscher Geschichte erlebte. Schramm folgt - nach einem Prolog aus ihrer Heidelberger Schülerinnenperspektive - dieser Chronologie und skizziert zunächst Kindheit und Jugend der 1882 in Posen in eine jüdische Familie Geborenen. Diese habe sich früh von dem traditionellen Frauenbild, das ihre Mutter verkörperte, distanziert. Die Schulzeit in Berlin schloss die inzwischen getaufte Dora Bieber 1901 mit der Hochschulreife ab, sie gehört damit zum Kreis Deutschlands erster 50 Abiturientinnen. Kurz zuvor hatte sie ihren späteren Mann Heinrich Lux kennengelernt, zwanzig Jahre älter, in zweiter Ehe lebend und von Schramm als ambivalente Persönlichkeit skizziert: Ein wortgewandter, sperriger Sozialdemokrat, der seiner 1915 geheirateten Frau in ihrem unabhängig-kritischen Denken nicht nachstand und ihr ein Vorbild zivilen Ungehorsams war.
Schramm zeichnet im Folgenden detailliert nach, wie die Studentin der Altphilologie und Geschichte mit immensem Wissensdrang ihren Weg an den Hochschulen und im Berufsleben verfolgte. Ob im konservativen Berlin als geduldete Gasthörerin oder als eine von einundzwanzig Studentinnen unter fast 5000 Immatrikulierten in München: immer wieder lässt die Autorin erahnen, wie außergewöhnlich der Werdegang der Porträtierten ist, wie wenigen Frauen eine solche Karriere möglich war bzw. gelang. Es herrschte eine massive Abhängigkeit von der Gunst der Professoren, hinzu kam die Isolation vom Gros der Kommilitonen: "Weisheitszicken werden nicht gegrüßt" (92), so das Motto der Heidelberger Burschenschaftler. Nach Promotion (1906) und Staatsexamen (1907) wurde Dora Bieber 1909 eine der ersten zehn angestellten Lehrerinnen in Preußen; der staatliche Schuldienst oder das Unterrichten von Jungen hingegen blieb ihr wie allen Frauen verwehrt.
Dabei wird dem Leser geradezu beiläufig vor Augen geführt, mit welch herausragenden Persönlichkeiten Dora Bieber/Lux ungeachtet dieser schwierigen Umstände in Kontakt kam: Helene Langes Gymnasialkurse schafften erste Berührungspunkte mit der bürgerlichen Frauenbewegung, renommierte Hochschullehrer wie Hans Delbrück erlaubten ihr die Teilnahme an der Vorlesung, Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky waren als Freimaurer Logenbrüder ihres Mannes; in Berlin war sie Nachbarin von Theodor Heuss, in Heidelberg half ihr 1945 Karl Jaspers bei der Stellensuche. An solchen Stellen würde man gerne mehr erfahren, tiefer eintauchen in das Geistesleben der jeweiligen Zeit, um neue Sichtweisen auf diese Verfechter freien Denkens zu gewinnen. Doch Schramm fehlen schlicht Quellen ihrer Protagonistin, die darüber Auskunft geben könnten, und es spricht letztlich für sie, kein billiges Kapital aus solch prominenten Namen zu schlagen. Hauptbezugspunkte bleiben für sie die Erinnerungen der beiden Lux-Töchter sowie eigener Heidelberger Mitschülerinnen aus der Nachkriegszeit.
Dora Lux war eine emanzipierte, politische Frau und zweifache Mutter - Doktortitel und Anstellung im Schuldienst einerseits und zwei Töchter andererseits waren eine Besonderheit in der damaligen Gesellschaft. Schramm arbeitet diesen Ausnahme-Status überzeugend und statistisch fundiert heraus, ohne zu versäumen, die zwar privilegierte aber grundsätzlich zurückgezogene, in keiner Weise schillernde Lebensweise ihrer Protagonistin im Berlin der 20er Jahre zu betonen. Diese wirkte eher im Stillen, dies jedoch umso mutiger und nachdrücklicher von Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft an. "Selbstachtung, Klugheit und Courage" (155) lauten die Schlagworte, die das entsprechende Kapitel überschreiben, und sie hängen mit zweierlei zusammen: Der "Unbotmäßigkeit gegenüber der Obrigkeit" (108), die jüdische Abstammung konsequent zu verschweigen, sowie dem Mut, sich den totalitären Ansprüchen des Regimes als Redakteurin und Autorin von Artikeln zu widersetzen, die für liberale Werte plädieren und jüdische Mitbürger ausdrücklich für ihre Verdienste würdigen (155ff.).
Schramm führt in diesem ausführlichsten der insgesamt fünf Großabschnitte aus, dass die unmittelbar im April 1933 aus dem Lehramt Entlassene von Beginn an den perfiden Charakter des Systems durchschaut hat. Wie andere Opfer der Nationalsozialisten (und im Gegensatz zu den vielen, die nichts mitbekommen haben wollen), deren Selbstzeugnisse entsprechend Auskunft geben, äußerte sich Dora Lux unmissverständlich. Sei es ihrer Tochter gegenüber, wenn sie von "geborgte[r] Zeit" (212) spricht, die ihr noch bliebe; sei es im Brief an die emigrierte Schwester, in dem sie das unwiederbringlich Verlorene beklagt (179); sei es im Nachruf auf Jakob Wassermann, in dem sie "die prinzipielle Einstellung des neuen Deutschland" (175) kritisiert.
Schramm sieht Absicht und Wirkung von Lux' Stellungnahmen vor allem in Ethische Kultur darin, die "Kluft zwischen Normen und Realität wenigstens wachzuhalten" (178). Sie schildert den öffentlichen Widerspruch der Journalistin über ihre humanistischen Texte und ihre private Weigerung, sich als Jüdin registrieren zu lassen: "Ich bin nicht jüdisch, und mein Name ist nicht Sara. Lass sie kommen." (254) Der umstrittenen Frage nach "jüdischem" Widerstand geht sie nicht weiter nach, sie belässt es beim Verweis auf die in dieser Hinsicht maßgeblichen Studien von Arno Lustiger [1]. Eine verklärende Interpretation des Wirkens von Dora Lux ist weder Zweck des Buches noch Stil seiner Verfasserin.
Meine Lehrerin, Dr. Dora Lux reiht sich ein in die Publikationen, die den NS-Herrschaftsalltag aus Sicht seiner Opfer und Gegner betrachten und dadurch diesen von lärmender Propaganda und nüchternen Gesetzestexten Betroffenen ein Gesicht verleihen. Schramm, aufgewachsen als Tochter eines Täters, charakterisiert eine bislang unbekannte Frauenrechtlerin und Intellektuelle, eine Repräsentantin des gehobenen Bürgertums jüdischer Herkunft, das mit seinen religiösen Wurzeln kaum etwas anzufangen wusste und sich in erster Linie als deutsch begriff. Daher rührt auch die Erschütterung bei Dora Lux, "in einem auf seine Kultur so stolzen Staat im 20. Jahrhundert" (199) Zeugin eines solchen Zivilisationsbruchs geworden zu sein. Dass sie diesen überlebt hat, hat sie neben ihrer Courage glücklichen Zufällen, sprich Lücken innerhalb der NS-Bürokratie, zu verdanken, ihre Biografin verzichtet auch hier auf jegliche Stilisierung. Bis in den Schlussteil (277ff.) hinein, der sich den letzten Lebensjahren in Heidelberg widmet, wo am noch heute existierenden Elisabeth-von-Thadden-Gymnasium die Begegnung zwischen Lehrerin und Schülerin stattgefunden hat, zeichnet sie das Bild einer bescheidenen Frau: "Sie wollte", so eine damalige Freundin von Dora Lux, "unabhängig von Klasse, Nation und Rasse nur Mensch sein." (291)
Anmerkung:
[1] Arno Lustiger: Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden in Europa 1933-1945, Köln 1994. Ders.: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011.
Benedikt Faber