Rezension über:

Beat Wismer / Michael Scholz-Hänsel (Hgg.): El Greco und die Moderne, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, 416 S., 273 Farb-, 33 s/w-Abb., ISBN 978-3-7757-3326-7, EUR 49,80
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Rezension von:
Ekaterini Kepetzis
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Ekaterini Kepetzis: Rezension von: Beat Wismer / Michael Scholz-Hänsel (Hgg.): El Greco und die Moderne, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [15.01.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/01/21284.html


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Beat Wismer / Michael Scholz-Hänsel (Hgg.): El Greco und die Moderne

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Es war ein Ausstellungs-Großereignis, das zwischen dem 28. April und dem 12. August 2012 mehr als 180.000 Besucher aus aller Welt anlockte: die Schau El Greco und die Moderne im Düsseldorfer Museum Kunstpalast. Dem grandiosen Eindruck des Besuchers entspricht der von Hatje Cantz in gewohnt opulenter Sorgfalt gestaltete, hier angezeigte Katalog. Er öffnet mit Beiträgen nationaler und internationaler Spezialisten ein informatives und spannungsvolles Betrachtungsfeld auf einen Maler, der heute, wie vor 100 Jahren, weiter ein berühmter Unbekannter genannt werden muss. Damals, zwischen 1900 und 1910 rückten mehrere Ereignisse, an welche die Düsseldorfer Schau erinnert, den gebürtigen Kreter Domenikos Theotokopoulos (ca. 1541-1614) auf einen Schlag in den Fokus von Öffentlichkeit und Fachwelt: 1902 wurde im Madrider Prado die erste Greco-Retrospektive gezeigt, sechs Jahre später publizierte der spanische Kunsthistoriker Manuel Bartolomé Cossío den ersten Werkkatalog des Malers. Im selben Jahr 1908 reiste der Kunsthistoriker und Apologet der Moderne, Julius Meier-Graefe, nach Spanien, angeblich um die Werke Velazquez' aus eigener Anschauung zu sehen, jedoch entdeckte er dort "einen Menschen [...], einen großen, über alle Begriffe genialen Menschen: Greco. Ein Mann aus der Gegend Rembrandts und uns so nahe wie ein Zeitgenosse." [1] Ein Jahr später kaufte Hugo Tschudi für die Münchner Alte Pinakothek die verkleinerte Espolio-Version an, 1911-1914 wird der Laokoon ebenda als Leihgabe gezeigt. 1910 veröffentlichte Meier-Graefe mit der Spanischen Reise eine literarische Apotheose des Malers, erläutert die Analogien von El Grecos Malerei zur künstlerischen Avantgarde der Zeit. Schließlich wird 1911/12 die ungarische Sammlung Marczell von Nemes' in München (8 Grecos) und Düsseldorf (10 Grecos) präsentiert.

Der Katalog reflektiert die zweigeteilte Ausstellung, verzichtet aber auf die dortige Verflechtung von altem Meister und Moderne, die im Wechsel vor hell- bzw. dunkelgrauen Wänden gehängt waren. Er widmet sich im ersten Drittel mit drei Aufsätzen und einem breiten Katalogteil dem Forschungsstand, dem Leben und Schaffen Grecos sowie den gut 40 in Düsseldorf gezeigten Werken. Fernando Marías skizziert einerseits den seit den 1960er-Jahren, als endlich Quellen auch aus Grecos früher kretischer Periode auftauchten, stetig angewachsenen Forschungsstand. Andererseits charakterisiert er knapp, aber informativ die künstlerische Evolution El Grecos vom spätpaleologisch-byzantisch geprägten Maler bis hin zum "Malerphilosophen" (Pachecho, 21) und unabhängigen Künstler in Spanien, der besonderen Wert auf inventio und Urheberschaft legte und dies durch seine Signaturen dokumentierte (23f.).

Carmen Garrido zeigt an zahlreichen Beispielen diejenigen Züge der Malerei El Grecos, die für die Künstler der Moderne dessen angeblichen Expressionismus zu belegen schienen: Farbe und Form als Ausdrucksträger der Emotion, antinaturalistischer Einsatz von Licht- und Schatten, Entstofflichung des Körpers, Dynamisierung der Kompositionen, antiillusionistische Perspektive, Fragmentierung des Bildraums und der Figuren, etc. Anette Schaffer nimmt die Bedeutung des Laokoon als Bildthema in den Blick. Sie erläutert prägnant die bekannte Signifikanz des Sujets als Aemulatio mit der 1506 ausgegrabenen antiken Skulpturengruppe in der frühneuzeitlichen Kunst und zeigt die Besonderheit von El Grecos Gemälde auf.

Es folgt der Katalogteil der in Düsseldorf gezeigten Gemälde El Grecos sowie einiger zeitgenössischer Grafiken von Schaffer, Elisabeth Hipp, Leticia Ruiz Gómez und Michael Scholz-Hänsel. Einer qualitativ sehr hochwertigen Abbildung sind die technischen Angaben und ausgewählte Literatur sowie ikonografische Einordnung und Forschungsdiskussion an die Seite gestellt, all dies vorbildlich und auf höchstem wissenschaftlichem Niveau argumentierend. Die langjährige Kontroverse um die Autorschaft des Kardinalsporträts Charles de Guises z.B. (Kat. 64) wird nachgezeichnet und das Bild folgerichtig nur als "El Greco (zugeschrieben)" geführt (64f.). Ein Leitmotiv im Katalogteil ist der Versuch, die stilistische Vielfalt des griechisch-italienisch-spanischen Malers sowie die immer wieder zu konstatierende Wiederholung von Motiven wie dasjenige eines einzelnen Heiligen im Gebet zu fassen. Angenehm hebt sich dieser Teil des Katalogs damit von der in den letzten Jahren wiederholt zu konstatierenden Unsitte ab, auf einen gesonderten Katalogteil zu verzichten und die Vorstellung der ausgestellten Werke in die Aufsätze und Essays zu integrieren.

Im zweiten Teil des Kataloges - El Greco und die frühe Moderne - wird die verblüffende Modernität der Maltechnik El Grecos zum wichtigsten Thema. Eingangs fragt Beat Wismers umfangreicher (156-195) Aufsatz nach den Motivationen der Auseinandersetzung der frühen Moderne mit Grecos Kunst und beleuchtet Werke von Picasso, Cezánne, Hofer, Delaunay, Marc und vielen anderen in Hinblick auf ihre formalstilistische und motivische Annäherung an den Maler.

Entscheidend war dabei Meier-Graefes Spanische Reise (1910), "Wie der Blitz" - so auch der Titel des vom El Greco-Experten Michael Scholz-Hänsel verfassten, informativen und dichten Beitrags - habe dieser El Grecos Werke in Madrid wahrgenommen. Längst hat die Forschung, wie der Autor darlegt, Meier-Graefes Text als Konstrukt und Propagierung modernistischer Werte erkannt, hatte dieser doch bereits 1907 in seinem Buch Impressionisten Greco erstmals zum Pendant Cézannes und Vorläufer der Moderne stilisiert. Tatsächlich wollte Meier-Graefe offenbar von vornherein eine Gegenposition zu Justis vernichtender Greco-Deutung in dessen Velazquez-Buch (1888) formulieren.

Zusammen mit Birgit Thiemann untersucht Scholz-Hänsel in einem weiteren Beitrag die Wiederentdeckung von El Grecos Werk in Spanien und beschreibt die umfangreiche Auseinandersetzung Pablo Picassos mit dem Maler, der nach jahrhundertelanger Missachtung, Ignoranz und Fehldeutung zunehmend in die Rolle eines Gründervaters der spanischen Malerei rückte. Im Studio des spanischen Malers Ignacio Zuloaga sah Picasso El Grecos (ebenfalls in Düsseldorf gezeigtes) Gemälde Die Öffnung des fünften Siegels - es diente ihm als wichtige Inspirationsquelle für die Démoiselles d'Avignon.

Veronika Schroeder erläutert, wie in ihrer hervorragenden Dissertation [2], El Grecos Bedeutung für den deutschen Expressionismus. Sie thematisiert, welche Bilder des Malers wo zu sehen oder publiziert waren und kennzeichnet die für die Modernen besonders interessanten Themenkomplexe wie die Zerrissenheit des Menschen und eine zur Qual werdende Spiritualität. Grecos Formensprache wird dabei z.B. dazu adaptiert, das nicht-darstellbare Grauen des 1. Weltkriegs doch ins Bild setzen zu können, wie die Bilder Beckmanns oder Meidners, die Porträts Kokoschkas und Oppenheimers eindrücklich zeigen. Besondere Bedeutung gewann die Malerei Grecos für die Darstellung religiöser Themen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts schwierig geworden war. Hier bot, wie Martina Padberg zeigt, die vergeistigt-mystische Spiritualität und der Individualismus des Toledaners einen Anknüpfungspunkt. Raimund Stecker betrachtet abschließend knapp die Bedeutung Grecos für Wilhelm Lehmbruck und Otto Gutfreund.

Der dritte und letzte Teil des Katalogs beschäftigt sich mit El Grecos Werken in Deutschland und ihrer Rezeption durch die Kunstgeschichte (Sammler, Kunsthistoriker und Museen). Michael Scholz-Hänsel legt zunächst einen zeitlichen Ablauf zu Leben und Werk El Grecos vor und dann eine umfassende Chronologie seiner Rezeption zwischen 1611 und 1956. Es folgen schlaglichtartige Auseinandersetzungen mit verschiedenen Aspekten der Rezeption in Spanien, Frankreich, Ungarn und Deutschland: Ruiz Gomez untersucht El Greco im Prado, Hipp El Greco zwischen 1909 und 1911 in München, Teresa Posada Kubissa beleuchtet die vollkommen unterschiedlichen Zugänge der Kunsthistoriker Carl Justi, August L. Mayer und Max Dvorak zu El Greco, welche die sich rasant wandelnde Deutung des Malers zeigen. Schroeder setzt sich mit Meier-Graefes El Greco-Bild, Thiemann mit dem baskischen Künstler Ignacio Zuloaga als Sammler und Vermittler El Grecos vor allem in Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts auseinander, Istvan Nemeth mit der Wanderausstellung der Sammlung Marczell von Nemes' 1910-1912 und Judith F. Dolkart skizziert die El Greco-Sammlung der Barnes Foundation, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert zusammengestellt wurde.

Ein Verzeichnis der in Düsseldorf ausgestellten Werke (zum Glück mit Verweis auf die Seite der Abbildung, denn ein Index fehlt leider), eine Auswahlbibliografie und ein Autorenverzeichnis schließen das in jeder Hinsicht gewichtige Buch ab.

In den Abschnitten zwei und drei des Katalogs wird leider auf die wissenschaftliche Aufarbeitung und Erläuterung der gezeigten modernen Werke in eigenen Katalogtexten verzichtet. Stattdessen sind hier den jeweiligen Beiträgen Bilderstrecken angeschlossen, die sich auf ganzseitige Abbildungen mit technischen Angaben beschränken. Der Teil zur Moderne gerät damit ein wenig ins Hintertreffen gegenüber dem ersten Abschnitt, was sehr bedauerlich ist, da gerade in diesem Bereich noch mehr Pionierarbeit hätte geleistet werden können. Offenkundig aber wird in diesem ansonsten hervorragenden Katalog - wie in Düsseldorf vor den Originalen - was die Moderne so an El Greco faszinierte und welche ideologisch-ästhetischen Paradigmen dabei angesprochen wurden.


Anmerkungen:

[1] Julius Meier-Graefe: "Spanische Reise", Berlin 1923 (1910), 77.

[2] Veronika Schroeder: El Greco im frühen deutschen Expressionismus. Von der Kunstgeschichte als Stilgeschichte zur Kunstgeschichte als Geistesgeschichte, Phil.Diss. München 1996, Frankfurt am Main 1998.

Ekaterini Kepetzis