Michael Scholz-Hänsel / David Sánchez Cano (Hgg.): Spanische Kunst von El Greco bis Dalí / Arte Español del Greco hasta Dalí. Ambiguitäten statt Stereotype/ Ambigüedades en lugar de estereotipos (= Kulturen - Kommunikation - Kontakte; Bd. 19), Berlin: Frank & Timme 2015, 331 S., ISBN 978-3-7329-0063-3, EUR 49,80
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"Spain is different", so warb das Spanische Tourismusministerium seit 1960 um die Gunst der Reisenden aus nah und fern. Einerseits wollte man damit dem franquistischen Spanien ein attraktiveres Antlitz verleihen, andererseits wurde auch auf ein wesentlich älteres Klischee reagiert (oder dieses vielleicht bewusst bedient?), das Spanien innerhalb Europas eine Sonderrolle zuwies. Grund für diese "Andersheit" Spaniens ist die seit dem 16. Jahrhundert, aber insbesondere im 19. Jahrhundert vor allem vom Nachbarland Frankreich propagierte "leyenda negra", die das Land als rückständig, antiaufklärerisch und fest in der Hand der katholischen Kirche umschrieb. Auch in der Kunstgeschichte wurde lange der Kunst der Iberischen Halbinsel ein "Exotenstatus" zugebilligt. Stimmt dieses Bild allerdings? Und wenn ja, was macht die spanische Kunst anders?
Der von Michael Scholz-Hänsel und David Sánchez Cano herausgegebene Band, der auf Beiträge der Sektion 14 "Nueva luz sobre la 'Leyenda Negra'" des Deutschen Hispanistentages 2013 in Münster zurückgeht, stellt dem Begriff des Stereotypen denjenigen der Ambiguität gegenüber. Wie die beiden Herausgeber in der leider recht knapp ausgefallenen Einleitung betonen, wurde "guter Kunst seit jeher die Fähigkeit zugesprochen, unterschiedliche Deutungen zu erlauben" (9). Was kann man also aus diesem Blickwinkel über die spanische Kunst sagen? Die insgesamt 14 Artikel widmen sich ganz unterschiedlichen Aspekten und decken dabei naturgemäß nur ansatzweise die gesamte Spanne zwischen El Greco und Salvador Dalí ab. Zehn Aufsätze behandeln Themen des 16. und 17. Jahrhunderts, zwei das 18. und nur je einer das 19. bzw. 20. Jahrhundert.
Yolanda Rodríguez Pérez beleuchtet anhand von drei Textbeispielen den Beginn der "Schwarzen Legende" im 16. Jahrhundert und kann hier die ersten Stereotype festmachen, die sich als kulturelle Konstanten der folgenden Jahrhunderte herausstellen. Michael Scholz-Hänsel widmet sich dem Spannungsverhältnis (und dem Missverständnis) von Inquisition und Kunst, ein Themenfeld, dem bereits seine 2009 publizierte Habilitation gewidmet war. [1] Fernando Marías geht in seinem anregenden Beitrag der Frage nach, welche Rolle die Konvertiten (conversos) in der Kunst Spaniens gespielt haben (könnten). In diesem Zusammenhang etwa vermutet er, dass Jusepe de Riberas Auswanderung nach Italien seinem "Konvertitenhintergrund" geschuldet sein könnte. Er wirft damit die Frage auf, ob nicht nur die großartigen Kunstschätze Italiens die auswärtigen Künstler anlockten, sondern eben auch die schlechte wirtschaftliche Lage der Heimatländer bzw. die dort drohende Verfolgung. Vor diesem Hintergrund erhält Riberas bekannte Klage "Spanien ist eine barmherzige Mutter für die Fremden, aber eine grausame Stiefmutter für die Einheimischen" eine besondere Bedeutung. [2]
José Riello widmet sich dem Spannungsverhältnis von El Greco und der Inquisition und räumt mit so manchem Klischee sowohl hinsichtlich der Modernität El Grecos wie auch der angeblichen Unterdrückung des Künstlers durch die Inquisition auf. Vielmehr zeigt ein genauer Blick auf das Toledaner Netzwerk wie eng die Verflechtungen waren und wie der Künstler geschickt Freiräume zu nutzen wusste. Ihn deshalb zum Propheten der Moderne zu machen führt jedoch meist zu weit. Clara Marías Martínez präsentiert mit Luís Hurtado de Mendoza ein exemplarisches Beispiel für die Aufgeschlossenheit des spanischen Adels für humanistische Ideen und liefert zugleich ein faszinierendes Kapitel des italienisch-spanischen Kulturaustauschs. Sie kann damit dem Stereotyp des rückständigen Spanien ein gutes Gegenbeispiel entgegenstellen.
Die Frage der Ambiguität taucht immer wieder einmal auf, wird jedoch erst im Beitrag von David Sánchez Cano näher beleuchtet, der auch eine Definition liefert, die man gut in die Einleitung hätte aufnehmen können. Er versteht "Ambiguität im linguistischen Sinne, wo Aussagen vom Sprecher bewusst mehrdeutig formuliert sind, um ästhetische Reize, kalkuliertes Offenlassen oder defensive Rückzugsräume für die Interpretation zu schaffen." (199) Anhand der Feierlichkeiten zur "Konversion" Englands in Toledo 1555 arbeitet er diese heraus und zeigt, wie in diesem Kontext Grenzüberschreitungen im religiös motivierten Fest möglich waren.
Gleich zwei Beiträge behandeln das spanische Stillleben, das sich nach den Dissertationen von Felix Scheffler [3] und Ira Oppermann [4] nach wie vor großer Beliebtheit innerhalb der deutschen Spanienforschung erfreut. Die von Juliane Grunzke vorgenommene Einteilung der Entwicklung des Genres in drei Phasen von Kargheit zu barocker Fülle gerät jedoch vielleicht etwas zu schematisch, da etwa die Stillleben Zurbaráns in puncto Kargheit kaum hinter denen von Sánchez Cotán stehen, aber 20 bis 30 Jahre später entstanden. Zumal wäre ein Vergleich mit Stillleben anderer Regionen, insbesondere von flämischen Künstlern, notwendig, um eine "typisch spanische" Entwicklung zu untermauern. Wie einflussreich gerade die niederländische aber auch italienische Kunst für die Entwicklung der bodegones von Velázquez war, zeichnet Kristin Winkler in ihrem Beitrag nach.
Andreas Emmelheinz widmet sich Goyas Caprichos, die seit jeher zu höchst unterschiedlichen Interpretationen angeregt haben. Anhand von drei Beispielen und fünf ausgewählten Interpreten (Baudelaire, Fred Licht, Werner Hofmann, Werner Busch und Susanne Schlünder) zeichnet er die zum Teil immer subtiler ausgefeilten sprachlichen Ausdifferenzierungen kunsthistorischer Analysen nach, die in gewissem Gegensatz zu Goyas vordergründig einfachem Text-Bild Verhältnis stehen. Es ist ja gerade das Kennzeichen seiner Kunst, dass er seinen Bildern meist die denkbar knappsten Bildunterschriften verpasst ("Ya tienen asiento", "Tu que no puedes" oder "Como suben los borricos") und damit den Interpretationsraum scheinbar ins Unermessliche öffnet. Dies gilt in gewisser Weise auch für Salvador Dalí, dessen Wagner-Rezeption Thema des letzten Aufsatzes von Simone Brandes ist. Sie vermag den Künstler geradezu als Paradebeispiel von Ambiguität und Stereotypisierung zu veranschaulichen.
Insgesamt betrachtet kann der zwar nur sparsam bebilderte, aber wohlfeile Band den Verlauf von vier Jahrhunderten spanischer Kunst von El Greco bis Salvador Dalí natürlich nicht gleichmäßig abbilden. Auch wäre zu diskutieren, ob man unter der Prämisse von Ambiguität jedem Jahrhundert gleichermaßen gerecht werden kann. El Grecos Spanien unterscheidet sich eben doch grundlegend von demjenigen Goyas, ganz zu schweigen von dem Land, in dem Salvador Dalí geboren wurde. Jedem an der Kunst der Iberischen Halbinsel Interessierten bieten die Aufsätze jedoch viel Anschauungsmaterial, das zur weiteren Beschäftigung einlädt, sodass die Lektüre unbedingt empfohlen sei.
Anmerkungen:
[1] Michael Scholz-Hänsel: Inquisition und Kunst. "Convivencia" in Zeiten der Intoleranz, Berlin 2009.
[2] Diane Kracht: "Wem es gut geht, der soll sich nicht bewegen". Der Spanier José de Ribera in Neapel, in: Der Künstler in der Fremde. Migration - Reise - Exil, hgg. v. Uwe Fleckner / Maike Steinkamp / Hendrik Ziegler, Berlin 2015, 47-64.
[3] Felix Scheffler: Das spanische Stillleben des 17. Jahrhunderts. Theorie, Genese und Entfaltung einer neuen Bildgattung, Frankfurt/Main 2000.
[4] Ira Oppermann: Das spanische Stillleben im 17. Jahrhundert. Vom fensterlosen Raum zur lichtdurchfluteten Landschaft, Berlin 2007.
Justus Lange