Rüdiger Wenzke (Hg.): Die Streitkräfte der DDR und Polens in der Operationsplanung des Warschauer Paktes (= Potsdamer Schriften zur Militärgeschichte; Bd. 12), Potsdam: Militärgeschichtliches Forschungsamt 2010, 176 S., 7 Farbabb., ISBN 978-3-941571-09-9, EUR 16,90
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Mit der Gründung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) wurde die deutsche Militärgeschichtsschreibung inhaltlich und methodisch ausdifferenziert. Dessen ungeachtet blieb die Operationsgeschichtsschreibung ein wichtiger Zweig der Militärgeschichte. Selbst in der Historiografie zum Kalten Krieg bildete sich eine Art Operationsgeschichtsschreibung heraus, die sich bislang vor allem auf Akten aus den ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts stützt. Dabei wurden vor allem die erhalten gebliebenen Manöverunterlagen herangezogen, um Kriegsplanungen und Kriegsbild des von der UdSSR dominierten Bündnisses zu rekonstruieren. Besonderes Interesse fanden naturgemäß Planspiele über den Einsatz von Kernwaffen, da es sich bei diesen um die militärische, aber vor allem auch um die politische Schlüsselwaffe der Blockkonfrontation handelte.
Im vorliegenden Sammelband, den mit Rüdiger Wenzke einer der produktivsten Historiker des MGFA herausgegeben hat, widmen sich Militärhistoriker aus Deutschland und Polen sowie ein Zeitzeuge der Frage, welche operative Rolle der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR und der Polnischen Volksarmee im Falle eines Krieges zugedacht war. Dem Band kommt dabei durchaus zugute, dass er nicht auf eine weitschweifige Konferenz, sondern auf einen thematisch eng gegliederten Workshop zurückgeht. Besonderes Lob verdienen die beigefügten Karten, Tabellen und Reproduktionen von Originalunterlagen, die dem Leser ein plastisches Bild von den weit in den gegnerischen Raum ausgreifenden Offensivplänen des Warschauer Pakts vermitteln.
Torsten Diedrich widmet sich in seinem Beitrag der operativen Rolle, die der NVA in den 1960er Jahren in den Planungen des Warschauer Pakts zugedacht war. Zunächst gibt er dabei einen Überblick zur Militärdoktrin und Militärstrategie der UdSSR, um sodann die Bedeutung des "Westlichen Kriegsschauplatzes" im Denken des sowjetischen Generalstabs nachzuzeichnen. Denn hier lag das Operationsgebiet der NVA, die beim Vorstoß durch die Bundesrepublik in Richtung Ärmelkanal eingesetzt werden sollte. Bei dem Kriegsspiel "TROIKA", dass im Januar 1967 stattfand, waren es dem Denken der Zeit entsprechend Kernwaffen, die der sozialistischen Militärkoalition zügig den Weg nach Westen öffnen sollten, so dass am zwölften Operationstag die Nordwestküste Frankreichs hätte erreicht werden können. Diedrich skizziert außerdem die Rolle der DDR-Volksmarine auf dem "Kriegsschauplatz Ostseeraum" und die Anforderungen, die die DDR bei der Vorbereitung ihres Territoriums als Aufmarschraum und Kriegsschauplatz zu bewältigen hatte.
Siegfried Lautsch, der als NVA-Offizier von 1983 bis 1986 Einblick in die operativen Planungen der 5. Armee des Militärbezirks Neubrandenburg hatte, schildert die enge Einbindung der NVA-Truppen in das sowjetische Kommandogefüge und die vorbereitenden Planungsprozesse für die im Kriegsfall vorgesehene Angriffsoperation. Den ab 1985 einsetzenden Wechsel zu einer defensiven Operationsplanung gibt Lautsch ebenfalls aus der Perspektive des beteiligten Stabsoffiziers wieder. Abschließend äußert er sich sehr kritisch über die Planungen für den taktischen Kernwaffeneinsatz: "Die beabsichtigte Disposition widersprach freilich allen realistischen militärischen Überlegungen und stellte eine Verharmlosung der unmittelbaren Wirkung und der folgenschweren Auswirkungen des Kernwaffeneinsatzes dar." (58) Der Beitrag von Winfried Heinemann zu den NVA-Plänen für die Einnahme von West-Berlin resümiert im Wesentlichen Bekanntes, da die entsprechenden Planungen bereits sehr gründlich von Otto Wenzel untersucht worden sind. [1]
Zbigniew Moszumański legt dar, welche Aufgaben die Polnische Küstenfront bei der Einnahme Dänemarks und beim Vorstoß durch Norddeutschland in die Niederlande zu bewältigen hatte. Im Gegensatz zu den mit der NVA befassten Historikern stützt er seine Ausführungen nicht auf Übungsunterlagen, sondern auf die operativen Direktiven für den Kriegsfall. Ein grundsätzlich anderes Bild entsteht dabei allerdings nicht.
Czesław Szafran widmet sich der polnischen Seekriegsflotte, die im Rahmen der Vereinten Ostseeflotte bei der Gewinnung der Ostseeausgänge zum Einsatz kommen sollte. Sein abschließendes Urteil über die politische Dimension der sowjetischen Strategie fällt sehr viel entschiedener aus als das seiner deutschen Kollegen: "Die Planungen für eine Angriffsoperation der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages gegen die Streitkräfte der NATO in Europa können als ein deutlicher Beleg für die aggressive und imperial ausgerichtete Strategie der UdSSR gewertet werden." (95)
Vorzüglich ist der abschließende Aufsatz von Rüdiger Wenzke, der die "NVA und die Polnische Armee als Koalitionsstreitkräfte auf dem europäischen Kriegsschauplatz in den 1980er Jahren" zum Gegenstand hat. Auch hier wird nochmals deutlich, wie stark beide Armeen in das sowjetische Kommandogefüge eingebunden waren und wie wenig sie gleichzeitig übereinander wussten. Besonders interessant sind Wenzkes Überlegungen zu der ab 1985 erfolgten Umstellung auf eine defensive Militärdoktrin, die er mit der polnischen Krise und dem vom sowjetischen Generalstab erwarteten Ausfall der polnischen Armee als Koalitionsstreitmacht in Verbindung bringt.
Anmerkung:
[1] Vgl. Otto Wenzel: Der Tag X. Wie West-Berlin erobert wurde, in: Deutschland Archiv 26 (1993), 1360-1371.
Michael Ploetz