Katharina Wesselmann: Mythische Erzählstrukturen in Herodots Historien (= MythosEikonPoiesis; Bd. 3), Berlin: De Gruyter 2011, XI + 450 S., ISBN 978-3-11-023911-9, EUR 109,95
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Der zu besprechende Band ist aus einer Dissertation an der Universität Basel im Jahr 2010 hervorgegangen. Er ist in der Diskussion von Herodots Historien aus der Perspektive der Märchenforschung zu verorten, welche in den vergangenen 20 Jahren der Herodotforschung wichtige Impulse gegeben hat (hier ist etwa an die Arbeiten von Alan Griffiths, William Hansen, Nino Luraghi und Philip Stadter zu denken). Katharina Wesselmann will einen Beitrag dazu leisten, die Historien "in ihrer kontextuellen Vielschichtigkeit zu begreifen" (VII), indem sie mittels Strukturvergleich die Verwendung traditioneller narrativer Muster bei Herodot analysiert und die mythischen und rituellen Konnotationen aufzeigt, die für Herodots antike Rezipienten damit verbunden waren. Damit wendet sie sich explizit gegen vorwiegend werkimmanente Ansätze (8, Anm. 15).
In der Einleitung (1-43) skizziert Wesselmann das Fortwirken mythischer Traditionen bei Herodot erstens auf der Ebene seiner Stoffe, zweitens in Form mythischer Erzählmodi und drittens in der strukturellen Nähe bestimmter Episoden in den Historien zu mythischen Erzählungen. Ihr Ansatz, wonach traditionelle Erzählungen nicht aus ihrem mythischen oder rituellen Bezugsfeld herausgelöst werden dürfen (24), erscheint freilich sehr optimistisch, gilt es doch diesen Kontext überhaupt erst zu rekonstruieren.
Eine prinzipielle Unterscheidung zwischen spatium mythicum und historicum ist bei Herodot nicht zu konstatieren: Er grenzt in I 5,3 und III 122,2 nicht die "historische Zeit" als solche ein, sondern deutet lediglich eine Beschränkung der "historischen Wissbarkeit" von Ereignissen an, die in fernster Vergangenheit liegen (2-4).
Wesselmann gibt einen knappen Überblick über die einschlägige Forschung (8-14) und stellt fest, dass eine "vollständige Erfassung der traditionellen Folien, die das Werk durchziehen, [...] bedauerlicherweise kaum zu leisten" ist (15). Daher beschränkt sie sich paradigmatisch auf vier Untersuchungsbereiche: "Frevel", "Wahnsinn", "Trickstergeschichten" und "Rite de Passage". Sie weist darauf hin, dass neben mythischen Folien auch Assoziationen an Riten mitzudenken sind (23-28), die Herodots Darstellung bei seinen "Primärrezipienten" (16) hervorrief. Nur so sei der Text "in einer Weise lesbar, die seiner Entstehungszeit angemessen ist" (ebd.). Leider geht die Autorin nicht hier, sondern erst im Schlusskapitel der Arbeit auf das für ihre Fragestellung durchaus zentrale Problem ein, wie sie sich die primäre Rezeption der Historien überhaupt vorstellt (322f.). Ihr Versuch, die Frage nach einem Hör- oder Lesepublikum als marginal aufzulösen (ebd.), widerspricht denn auch der später geäußerten Aussage, bei antiken Texten sei die Rekonstruktion der primären Rezeption "besonders wichtig" (337).
Abschließend wird in der Einleitung die Vorgehensweise einer strukturalistischen Zerlegung der herodoteischen Geschichten in einzelne Elemente ("Motive" oder "Funktionen") erläutert (28-43).
Im Kapitel "Frevel: Mythos als moralisches Paradigma" (44-78) werden die mythischen Bezüge von Freveltaten in den Historien untersucht. Ausgehend von der Geschichte um die Frau und die Tochter des Masistes wird in einem ersten Abschnitt die Darstellung des Xerxes als eine imitatio des Zeus gedeutet, die moralische Wertungen durch Herodot impliziert. In einem zweiten Abschnitt werden die zahlreichen Gewässerfrevel persischer Könige vor der Folie des Kampfes zwischen Achill und Skamandros interpretiert.
Das Kapitel "Wahnsinn - Die Komplexität der Moral im Spiegel von Mythos und Kult" (79-159) wendet sich insbesondere Kambyses und Kleomenes zu, deren Taten mit Paradigmen der rituellen Ekstase, etwa im Dionysoskult, und ihrer Darstellung im Mythos in Zusammenhang gebracht werden können.
Anschließend werden "'Trickstergeschichten': Schelmenfigur und Erzählstruktur" betrachtet (160-196). Als "Trickster" bezeichnet Wesselmann Figuren wie Themistokles, "die sich durch hohe Intelligenz auszeichnen und ihre Ziele oftmals durch Listigkeit erreichen" (160), und die Bezüge zu traditionellen Erzählschemata, etwa der Odyssee, aufweisen. Mit dem anthropologischen Paradigma des "Tricksters" und seiner tölpelhaften Komik haben die meisten dieser Figuren wenig gemein (182).
Das letzte Kapitel, "Rite de passage - Die Tradition des Neuanfangs als mythhistorisches Zeichen" (197-299), befasst sich mit Übergangsriten in den einschlägigen coming-of-age-Erzählungen, etwa der des Kyros. Initiationsmythen und -riten sind vor allem für die Interpretation der Atreusmahl-Geschichten von Bedeutung. In einer zumindest der Rezensentin etwas gewagt erscheinenden Deutung wird auch der Logos um Rhampsinitos und den Meisterdieb - an sich eine klassische Trickstergeschichte - als ein "Wettstreit mit dem Tode selbst" aufgefasst (285), der von Herodots zeitgenössischen Rezipienten "als Unterweltslogos wahrgenommen wurde" (288).
An diesen Hauptteil (dem eine Straffung der mitunter eher zäh zu lesenden Argumentation nicht geschadet hätte) schließt sich ein letztes Kapitel an, das mit "Schluss" (300-341) zu bescheiden tituliert ist. Hier zeigt sich, dass Wesselmanns Ansatz weit trägt. Überzeugend werden die mythischen und rituellen Folien in den Historien, die die Studie detailliert nachweist, als Elemente der Strukturierung und Sinngebung gedeutet: Durch die Anlehnung an konkrete traditionelle Strukturen gelingt es Herodot, "dem Leser Typisches auf assoziative Weise und in symbolisch vertiefter Form zu vermitteln, ohne sie explizit - und dadurch womöglich weniger treffend - zu benennen" (303).
Überaus lesenswert ist der Abschnitt zur Problematik der modernen Herodotrezeption (307-335). Wesselmann zeigt anhand der Frauenraubgeschichten aus Hdt. I 1-5, wie Herodot das Nebeneinanderstellen von einander ausschließenden Versionen einer Geschichte als narratives Mittel benutzt. So "gewinnt auch die eine oder andere 'wahre' Erzählung in Kombination mit ihrer 'unwahren' Variante an Bedeutung; sie stellen gemeinsam etwas dar, was eine Einzelversion nicht darstellen könnte" (316). Gerade Herodots skeptische Diskussion gewisser Traditionen (etwa zum Trojanischen Krieg) macht deutlich, dass er die dichterische Überlieferung ernst nimmt (321).
Wesselmann will Herodot nicht als einen bloßen Sammler von Überlieferungen verstanden wissen (336f., vgl. 35); dennoch erscheint er in ihrer Perspektive der Eingebundenheit in eine traditionelle Erzählkultur über weite Strecken als Referent (explizit z.B. 318). Die Charakterisierung der Historien als "Neuerzählung traditioneller Geschichten in anderem Kontext" (335) wird seinem Werk jedoch (wie die Rezensentin als Althistorikerin denkt) nicht ganz gerecht. Wenn nicht die Inhalte als völlig nebensächlich abqualifiziert werden sollen, so wäre doch darauf hinzuweisen, dass Herodot die traditionellen Muster nicht aus reinem Vergnügen an der Form benutzt, sondern mit der ganz konkreten Absicht, historisches Geschehen zu erklären.
Es folgen zwei Appendices zu Einzelproblemen, das Literaturverzeichnis, hilfreiche Indices, in denen sogar "Schneewittchen" und der "Weihnachtsmann" als "mythische Handlungsfiguren" rubriziert sind (bei James Bond hingegen, der 197 diskutiert wird, hat es dazu nicht gereicht). Schließlich ist noch eine englische Zusammenfassung auf über 30 Seiten angefügt, die in einer ausführlicheren Version auf der Website des Harvard Center for Hellenic Studies zur Verfügung steht. [1]
Das Buch, das auch formal außergewöhnlich sorgfältig gestaltet ist, spannt einen weiten Bogen. Katharina Wesselmann überblickt nicht nur die ausufernde Forschungsliteratur zum Thema, sondern in ganz bewundernswerter Weise auch die antiken Quellen. Jeder, der zu Herodot forscht, wird ihre Überlegungen mit großem Gewinn lesen können.
Anmerkung:
[1] http://chs.harvard.edu/wa/pageR?tn=ArticleWrapper&bdc=12&mn=4146
Susanne Froehlich