Klaus Geus / Elizabeth Irwin / Thomas Poiss (Hgg.): Herodots Wege des Erzählens. Topos und Logos in den Historien (= Zivilisationen & Geschichte; Bd. 22), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2013, 460 S., ISBN 978-3-631-63436-3, EUR 69,95
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"Herodots Wege des Erzählens. Logos und Topos in den Historien" will mehr sein als ein weiterer Tagungsband zu Herodot. Das von Klaus Geus, Thomas Poiss und Elizabeth Irwin [1] herausgegebene Buch ist das Ergebnis von fünf Workshops, die in den Jahren 2009 bis 2012 im Rahmen des Exzellenzclusters Topoi in Berlin stattfanden ("Logos und Topos bei Herodot", "Topos und Logos bei Herodot", "Kosmos und Nomos bei Herodot", "Nomos und Kosmos bei Herodot" sowie "Logon hodos: Der Weg des Erzählens bei Herodot"). Ziel dieser Veranstaltungen war es, "Fragen der Raumwahrnehmung, der Konzeptionalisierung und der Darstellung von Raum in der frühgriechischen bzw. klassischen griechischen Literatur" anhand der Historien zu erörtern und zu überprüfen (11).
Diese Fragestellung schlägt sich in den 15 Einzelbeiträgen, von denen 14 aus den Berliner Treffen hervorgegangen sind, allerdings zum Teil gar nicht nieder. Der mit viereinhalb Seiten extrem knappen Einführung gelingt es nur ansatzweise, den dadurch verursachten Eindruck einer gewissen inhaltlichen Beliebigkeit aufzufangen, und was unter den Begriffen Logos und Topos zu verstehen sei, wird von den Herausgebern leider nirgends definiert.
Die Qualität der einzelnen Beiträge ist dadurch jedoch in keiner Weise geschmälert. Einige wenige sollen in der hier gebotenen Kürze näher vorgestellt werden. [2]
Reinhold Bichler untersucht "Die analogen Strukturen in der Abstufung des Wissens über die Dimensionen von Raum und Zeit in Herodots Historien". Sowohl chronologische als auch geographische Angaben werden von Herodot sorgfältig nuanciert: Die Genauigkeit von Herodots Schilderungen, so legt Bichler überzeugend dar, ist nach dem Maß des möglichen empirischen Zugangs einerseits und andererseits nach dem zu erwartenden Vorwissen der Rezipienten abgestuft, je nach Entfernung der Zeiten oder Räume, über die berichtet wird. Analog zur Verwendung chronologischer Angaben nutzt Herodot auch topographische Zahlenangaben zur Markierung bestimmter Zonen seiner Raumkonzeption.
Gleich mehrere Beiträge stellen die Historien in den Kontext der nichtgriechischen Überlieferung. Mit der außergewöhnlich guten Quellenlage zu dem bei Herodot als König bezeichneten Asychis (II 135) befaßt sich die Ägyptologin Alexandra von Lieven. Nicola Zwingmann stellt am Beispiel der hethitischen Felsreliefs in Ionien Überlegungen zur Zuverlässigkeit der Historien an. Ebenso wie Veronica Bucciantini, die zur Beurteilung von Herodots Indiendarstellung die achämenidischen Königsinschriften heranzieht, stützt sich Anca Dan in ihrem Beitrag über "Achaemenid World Representations in Herodotus' Histories. Some geographic examples of cultural translation" auf die epigraphischen Zeugnisse. Anhand der persischen Inschriften und Reliefs legt Dan die Prinzipien der achämenidischen Weltvorstellung dar, um die Probleme ihrer kulturellen Übersetzung ins Griechische aufzuzeigen. Herodot bezieht sich demnach direkt auf iranische Vorstellungen. Wenn er die Aufstellung des Xerxesheeres (VII 61-97) nach einzelnen Völkerschaften durchgeht, deren Reihenfolge vom Zentrum des Reichs ausgehend der Perspektive des Sonnenlaufs folgt, stimmt das genau mit der üblichen Anordnung der Völker in den achämenidischen Listen überein. Beim Katalog der dem Dareios tributpflichtigen Völker (III 89-94) dagegen entwirft Herodot ein griechisches Konzept, das jedoch seinerseits auf eine Auseinandersetzung mit dem aus hellenischer Sicht unverständlichen hodologischen persischen Ordnungsprinzip zurückgeführt werden kann, wie Dan überzeugend argumentiert.
Dem unlängst von Helmut Löffler in einer Monographie behandelten Thema der Fehlentscheidungen [3] widmet sich Fabian Schulz in seinen Überlegungen zu "Xerxes, Agamemnon und Hektor. Fehlentscheidungen und Fähigkeit zur Einsicht". Schulz legt schlüssig dar, dass Herodot die homerischen Ratsszenen als Modell für seinen Xerxesrat (VII 8-19) benutzt hat und seine Xerxesdarstellung damit an die Figuren des Agamemnon und Hektor anlehnt: "Herodot projiziert den homerischen Beratungsmodus nach Persien, [...] um die Entscheidungsfindung darstellbar und verständlich zu machen" (343). Schulz meint, es habe bei den antiken Rezipienten Erstaunen hervorgerufen, dass der Großkönig sich wie ein griechischer Aristokrat zu verhalten weiß, und Herodot habe so Sympathie und Mitleid mit Xerxes geweckt. Wie sich der Verfasser die Rezeptionssituation der Historien vorstellt, wird leider nicht recht deutlich. [4] Der Beitrag wirkt überhaupt in vielerlei Hinsicht sehr skizzenhaft; [5] mehr ist freilich auf nur zehn Textseiten auch kaum zu leisten.
Weitere Aufsätze widmen sich der Darstellung allmächtiger Götter in den Historien (Gian Franco Chiai), der Erklärung eines geographischen Irrtums (Klaus Geus), zeithistorischen Bezügen auf das perikleische Athen (Elizabeth Irwin in zwei Beiträgen), der politischen Analyse (Christian Wendt) und der Situationskomik bei Herodot (Wolfgang Will). Marco Dorati beleuchtet in zwei Beiträgen die Gedankenwelt der herodoteischen Protagonisten aus dem Blickwinkel der Possible Worlds Theory und Text World Theory. In einem rezeptionsgeschichtlichen Beitrag befasst sich Johannes Engels mit Georg Niebuhrs Abhandlung "Über die Geographie Herodots" aus dem Jahr 1812.
Jedem Beitrag sind Zusammenfassungen in deutscher, englischer und französischer Sprache vorangestellt. Das Buch wird erfreulicherweise durch eine gemeinsame Bibliographie, ein Stellenverzeichnis und einen Index der antiken Namen abgeschlossen. Ein Abbildungsverzeichnis mit entsprechenden Nachweisen sucht man vergebens; aus welchem Buch sind zum Beispiel die auf S. 217 abgebildeten Karten entnommen? Die Beschriftungen auf Karten und Illustrationen sind in vielen Fällen nicht entzifferbar.
Wer sich einen wirklichen Überblick über "das weite Spektrum moderner Perspektiven auf Herodot" verschaffen will (das der Band seinem ambitionierten Anspruch nach "ausschreitet" (15)), ist wohl auch weiterhin gut beraten, zu Brill's Companion [6] zu greifen. Die vorliegende Sammlung aber bietet nichtsdestoweniger sehr lesenswerte und überzeugende Untersuchungen aus fachlich und methodisch unterschiedlichen Perspektiven. Sie leistet damit einen weiterführenden Beitrag sowohl für die Herodotforschung als auch zur Frage nach antiken Raumkonzeptionen. Über Raumdarstellung in der griechischen Geschichtsschreibung wird man zukünftig gewiss nicht arbeiten, ohne dieses Buch heranzuziehen.
Anmerkungen:
[1] Elizabeth Irwins Name ist sowohl auf der Titelseite als auch auf dem Buchdeckel falsch geschrieben.
[2] Das komplette Inhaltsverzeichnis findet sich auf http://www.peterlang.com/download/toc/68803/inhaltsverzeichnis_263436.pdf
[3] Helmut Löffler: Fehlentscheidungen bei Herodot (Classica Monacensia; 34), Tübingen 2008. Schulz' Auseinandersetzung mit Löfflers Bewertung des herodoteischen Xerxes ist etwas sehr knapp, aber durchaus treffend und pointiert (341).
[4] So ist einmal von Hörern (334), ein andermal von Lesern Herodots (340, 343) die Rede.
[5] Schulz geht über wichtige Vorarbeiten mit völligem Stillschweigen hinweg; es fehlen selbst die für sein Thema grundlegenden Arbeiten von Eberhard Hermes: Die Xerxesgestalt bei Herodot, Kiel 1951; Armin de Jonghe: Der Feldzug des Xerxes. Die Entstehung einer negativen Überlieferung, Norderstedt 2006; oder Katharina Roettig: Die Träume des Xerxes. Zum Handeln der Götter bei Herodot (Studia Classica et Mediaevalia; 2), Nordhausen 2010.
[6] Egbert J. Bakker / Irene J. F. de Jong / Hans van Wees (eds.): Brill's Companion to Herodotus, Leiden / Boston / Köln 2002.
Susanne Froehlich