Franz Josef Merkl: General Simon. Lebensgeschichten eines SS-Führers: Erkundungen zu Gewalt und Karriere, Kriminalität und Justiz, Legenden und öffentlichen Auseinandersetzungen, Augsburg: Wißner 2010, 600 S., ISBN 978-3-89639-743-0, EUR 38,00
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Nach der deutschen Annexion Österreichs 1938 rückten Wachmannschaften des KZ Dachau zum Wiener Westbahnhof aus, um ca. 2000 Juden und "Asoziale" in das Konzentrationslager abzuführen. Während der Zugfahrten quälten die SS-Bewacher die Verhafteten und ermordeten mindestens 21 Gefangene. Der verantwortliche Wachführer Max Simon äußerte volles Verständnis für die "Erregung" seiner Männer, da die verhafteten Juden sich "besonders widerspenstig" benommen hätten. Um kritische Nachfragen wegen der Gewaltexzesse künftig von vornherein auszuschließen, wies Simon die Wachen außerdem an, "über jede Misshandlung einen Bericht" abzugeben, "aus dem hervorgeht, dass es sich nicht um eine Misshandlung, sondern um eine Notwehr gegen Häftlinge gehandelt hat..." (119).
Seit 1939 stieg Simon zum SS-General auf; dass seine Karriere aber im KZ-System fußte, blieb bislang unbeachtet. Umso verdienstvoller ist die akribisch recherchierte Biografie des Historikers Franz Josef Merkl, die 2008 am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Augsburg als Dissertation angenommen wurde. Die Studie fügt sich in eine Reihe von Forschungsarbeiten ein, die sich mit den Tätern der mittleren Führungsebene des NS-Regimes befassen. [1] Merkl folgt den zentralen Lebensstationen Simons und gliedert sein Buch in fünf Kapitel, die das jeweilige Bild dekuvrieren, das Simon im Nachhinein von sich zeichnete.
Das erste Kapitel bezeichnet Merkl als "angepasste Lebensgeschichte" (28). Der Autor spielt darauf an, dass sich Simon nach seinem SS-Beitritt 1933 zum Weltkriegsveteran stilisierte, obwohl er erst 1917 zum Sanitätsdienst eingezogen worden war und nicht an der Front gekämpft hatte. Nachhaltig prägten den 1899 in Breslau geborenen Simon aber die Freikorps-Einsätze im "schmutzigen 'Bandenkrieg'" gegen "polnische Insurgenten" (39) nach 1918. Damals entwickelte der Schneiderlehrling den Wunsch, Soldat zu werden; von 1919 bis 1929 diente er in der Reichswehr. Zurück im Zivilleben nahm Simon eine Stelle bei der Landesversicherungsanstalt Thüringen an, er trat in den NS-Beamtenbund ein und schloss sich 1932 der NSDAP an. Für Merkl repräsentiert der "geeignete Opportunist" (54) Simon jene Feldwebel, die im Gegensatz zum Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes über keine akademische Bildung verfügten, aber wegen ihres "'soldatischen' Auftretens" (51) und ihrer Durchsetzungsfähigkeit bei der SS gesucht waren. Als Landesbeamter zählte Simon zudem zu einer Berufsgruppe, bei der die Zustimmung zur NSDAP überdurchschnittlich hoch war.
1934 übernahm er die Führung des 3. Sturms des "SS-Sonderkommandos Sachsen". Merkl vermutet, dass eben dieser SS-Sturm in Dresden fünf Morde verübte, die im Zusammenhang mit der Liquidation der SA-Spitze vom 30. Juni 1934 standen. Im Zuge der Reorganisation des KZ-Systems wurden Simon und seine Männer vom Inspekteur der Konzentrationslager, Theodor Eicke, mit der Bewachung des KZ Sachsenburg beauftragt. Die "verschwiegene Lebensgeschichte" (67) Simons gipfelte 1937 in seinem Aufstieg zum Führer der Dachauer Wachmannschaft. Merkl liefert zahlreiche Belege dafür, dass Simon zur starken Brutalisierung, Kriminalisierung und Militarisierung der SS-Posten beitrug. Wie Eicke und viele andere Führungsfiguren im KZ-Dienst sah sich Simon als "politischer Soldat" im Kampf gegen die "inneren Feinde" des NS-Regimes an keine Rechtsordnung gebunden. Doch auch an der "äußeren Front" löste er sich von rechtlichen Normen: Gemeinsam mit Eicke führte Simon die Dachauer Wachmannschaft 1938 bei den völkerrechtswidrigen Attacken auf tschechische Grenzstellungen an. Diese Einsätze, die über die Aufgaben einer Wachtruppe weit hinausgingen, griffen den Plänen Himmlers und Eickes vor, die Wachmannschaft zu einer eigenständigen militärischen Formation auszubauen: die SS-Totenkopfdivision. Obwohl Simon nicht über die erforderlichen militärischen Erfahrungen verfügte, übertrug ihm Eicke im Oktober 1939 die Führung des 1. Infanterieregimentes dieser neu aufgestellten Division.
Die SS-Karriere Simons seit Kriegsbeginn überschreibt Merkl als "gefälschte Lebensgeschichte" (156). Denn während sich der SS-General nach 1945 als ein "Soldat wie andere auch" (546) beschrieb, benennt Merkl zahlreiche Verbrechen, für die Simon als Regimentskommandeur, als Vertreter Eickes und als Kommandeur der 16. SS-Panzergrenadiersdivision "Reichsführer SS" die Verantwortung trug: unter anderem im "Vernichtungskrieg gegen den 'jüdischen Bolschewismus'" (190) in der Sowjetunion und bei Massenmordaktionen während der "Bandenbekämpfung" (280) in Mittelitalien. Merkl weist nach, dass in vielen dieser Fälle auch Wehrmacht und SS eng kooperierten. Das Kapitel mündet in einer 70-seitigen taggenauen Schilderung des Kriegsverlaufes in Schwaben und Nordfranken. Simon beharrte noch im April 1945 als kommandierender General des XIII. SS-Armeekorps darauf, die sinnlosen Endkämpfe fortzusetzen. Als in der Ortschaft Brettheim der Landwirt Friedrich Hanselmann angesichts der aussichtlosen militärischen Lage eine Gruppe Hitlerjungen entwaffnete und nach Hause schickte, wertete Simon dies als Wehrkraftzersetzung und ließ ihn hinrichten - ebenso wie den Bürgermeister und den NSDAP-Ortsgruppenleiter, die sich beide geweigert hatten, das Todesurteil mitzutragen.
Merkls letztes Kapitel "im Bann der Vergangenheit" (388) widmet sich der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen Simons. Wegen der Massenmorde in Mittelitalien wurde er zwar zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslanger Freiheitsstrafe begnadigt und 1954 aus politischen Gründen aus britischer Haft entlassen. In der Sowjetunion wurden ebenfalls schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben, es kam jedoch nie zur Einleitung eines förmlichen Strafverfahrens. Aber auch in der Bundesrepublik bestand kein Interesse, Simons Rolle im KZ-System und seine Kriegsverbrechen aufzuklären. Schnell verbreitete sich der Mythos vom pflichttreuen Soldaten. Merkl arbeitet überzeugend heraus, dass sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit lediglich mit den deutschen Opfern Simons solidarisch zeigte: Erst als zwischen 1955 und 1960 die Morde von Brettheim verhandelt wurden, begleitete eine kritische Berichterstattung diese Verfahren.
Weit über den biografischen Fokus hinaus, fragt Merkl nach äußeren Rahmenbedingungen und strukturgeschichtlichen Zusammenhängen. Seine Idee, die Biografie Simons einerseits mit Blick auf dessen wechselnde Selbstzeugnisse zu analysieren, und andererseits doch an einer chronologischen Erzählung festzuhalten, hat ihren methodischen Reiz. Doch bedingt sein Ansatz auch Wiederholungen und Exkurse. Der Autor ließ sich stellenweise zu Detailschilderungen verleiten, die vom eigentlichen Thema wegführen. Unter den zahlreichen Unterkapiteln leiden Übersichtlichkeit und argumentative Schärfe des Buches. Das Dickicht langer Zitate - Teile der Himmler-Rede in Charkow 1943 tauchen gleich an mehreren Stellen auf (236f, 263, 301 FN 4) - droht Lesern zur Stolperfalle zu werden. Dabei hat Merkl wichtiges mitzuteilen: Kenntnisreich entlarvt er die verbreitete Nachkriegslegende von den Soldaten der Waffen-SS, die nur ihre Pflicht getan hätten. Differenziert schildert er Simons Haltung als "Opportunist", als "politischer Soldat" und als Nationalsozialist. Präzise arbeitet Merkl die enge Verbindung heraus, die zwischen der "exzessiven, oft kriminellen Gewalt" und dem "gleichzeitigen Statusgewinn" (24) Simons bestand.
Anmerkung:
[1] Vgl. z.B. Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000; Klaus-Michael Mallmann / Gerhard Paul (Hgg): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiografien, Darmstadt 2004; Im Sommer erscheint von Nils Weise: Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und Waffen-SS, Paderborn 2013.
Dirk Riedel