Timothy Corrigan: The Essay Film. From Montaigne, After Marker, Oxford: Oxford University Press 2011, 237 S., zahlreiche s/w-Abb., ISBN 978-0-19-978170-6, USD 27,95
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Leicht verwischt, wie mit Kreide auf eine Tafel geschrieben, ziert der Titel The Essay Film die aktuelle Monografie von Timothy Corrigan, der als Professor für Englisch und Filmwissenschaft an der University of Pennsylvania lehrt. Die Buchstaben vermitteln den Eindruck, dass man sie jederzeit auswischen und überschreiben kann, veranschaulichen also subtil die Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes: Sogenannte Essayfilme verweigern sich klaren Definitionen, und sie geben sich als vorläufig und revidierbar aus, indem sie vermeintliche Gewissheiten scharfsinnig hinterfragen, ohne diese durch neue Dogmen zu ersetzen. Wenn man diese Filme, wie Corrigan und die meisten einschlägigen Autoren, in der Tradition von Michel de Montaignes "Essais" verwurzelt sieht, dann kann man sie als ambitionierte kinematografische (Denk-)Versuche bezeichnen, die ihre subjektive Fundierung selbstkritisch offenlegen und sich festen Kategorisierungen ebenso entziehen, wie sie sich bemühen, feste Denkschubladen aufzulösen. Als Essayfilm par excellence gilt Sans Soleil (Ohne Sonne, Frankreich 1982), eine komplex angelegte Meditation über Zusammenhänge von Erinnerung, Bild und Geschichte des 2012 verstorbenen Chris Marker. Mit dem Untertitel "From Montaigne, After Marker" nennt Corrigan somit zwei Fixpunkte der Diskussion um diese filmische Artikulationsform.
Ausgehend von der schwierigen Definierbarkeit des Essayfilms formuliert der Verfasser in der Einführung zwei Hauptziele, nämlich einerseits dessen Abgrenzung von anderen Filmpraktiken und andererseits die Blicklenkung auf dessen literarische Wurzeln (5). Die folgenden sieben Kapitel sind zu zwei Teilen arrangiert: Die Kapitel 1 und 2 bilden den ersten Teil und versprechen Abrisse über die Tradition der Textgattung und die Geschichte des Essayfilms. Bemerkenswerterweise sucht Corrigan bei dieser Gelegenheit mit der Analyse von Chris Markers Foto-Essay-Buch Les Coréennes (1959) auch nach Verwandtschaften zwischen fotografischen und filmischen Essays. Überzeugend erörtert er, dass die definierenden Strukturen und epistemologischen Fundamente für den 'eigentlichen' Essayfilm trotz Vorläufern, die bis 1909 zurückreichen, erst ab 1940 gelegt werden (63-68); die historische Skizze bleibt gleichwohl unsystematisch und lückenhaft. Im zweiten Teil versucht der Autor, fünf unterschiedliche "Essayistic Modes" voneinander abzugrenzen: essayistische Porträts (Kap. 3), Reisefilme (Kap. 4), Tagebuchfilme (Kap. 5) sowie "editorial essays", welche vor allem die Vermittlung von historischen und zeitgenössischen Ereignissen hinterfragen (Kap. 6). Als letzte Kategorie stellt er "refractive essays" vor, die mit intensiven Reflexionen über Kunst und Medien aufwarten (Kap. 7). Mischformen schließt Corrigen übrigens keineswegs aus - diese Relativierung seiner 'Typologie' ist auch unvermeidbar, da Grenzauflösungen und -überschreitungen zu den Konstituenten von Essayfilmen gehören: Diese sind insofern nämlich 'parasitär', als sie ausgiebig auf das Gattungsrepertoire von Dokumentar-, Spiel-, Experimental- oder Animationsfilmen zurückgreifen. Gerade aus dieser bewussten Hybridisierung resultiert das zentrale, bislang ungelöste Definitionsproblem dieser Form, deren Status als Genre oder Gattung weiterhin umstritten ist. [1] Allerdings mutet der Autor dem literarischen und filmischen Essay etwas zu wenig kreatives Potenzial zu, wenn er bemerkt: "The essay and the essay film do not create new forms of experimentation, realism, or narrative; they rethink existing ones as a dialogue of ideas" (51). Immerhin suchen Essayfilmer oft nach angemessenen Ausdrucksformen für Zusammenhänge und Prozesse, für die im Korsett herkömmlicher Darstellungskonventionen kein Platz ist.
Corrigan reflektiert zwar die Grenzen seines Ansatzes, doch leider bleiben grundlegende methodische Probleme bestehen. So bezeichnet er den Essay bzw. das Essayistische als "the intersecting activity of personal expression, public experience, and the process of thinking" (14). Zentrale Konstituenten sind damit umschrieben, doch unklar bleibt, inwiefern "essay" und "essayistic" synonym gemeint sind. Einer der ausführlicheren Definitionsversuche offenbart dieses Manko: "This study thus aims to explore more exactly the 'essayistic' in and through film, where the essayistic indicates a kind of encounter between the self and the public domain, an encounter that measures the limits and possibilities of each as a conceptual activity. Appearing within many different artistic and material forms besides the essay film, the essayistic acts out a performative presentation of self as a kind of self-negation in which narrative or experimental structures are subsumed within the process of thinking through a public expericence. In this larger sense, the essay film becomes most important in pinpointing a practice that renegotiates assumptions about documentary objectivity, narrative epistemology, and authorial expressivity within the determining context of the unstable heterogeneity of time and place" (6). Zur Veranschaulichung erörtert Corrigan deshalb, wie einige seiner Hauptbeispiele im Spiel- oder Dokumentarfilmmodus 'funktionieren' würden. Man fragt sich indessen mehrfach, ob er für seine Erörterungen geeignete Essayfilme oder nicht doch eher Spiel- bzw. Dokumentarfilme mit essayistischen Tendenzen ausgewählt hat. Zu den analysierten Zweifelsfällen gehören Nanni Morettis Caro Diario (Liebes Tagebuch..., Italien 1993) oder Ari Folmans Waltz With Bashir (Israel, Frankreich, Deutschland 2008). Der Verfasser wäre gut beraten gewesen, wenn er eine Essayfilm-Filmografie beigefügt hätte, um die Mélange seiner Filmbeispiele besser nachvollziehbar in einem größeren Kontext zu verorten. [2]
Weite Auslegungen des Essayfilmbegriffs grassieren in den letzten Jahren und verwässern die Diskussion. [3] Die große Lüneburger Essayfilmtagung von 2007, zu der auch Corrigan einen Beitrag beisteuerte, wollte diesem Dilemma entgegenwirken, um spezifische ästhetische Verfahrensweisen des Essayfilms auszuloten. [4] Umso erstaunlicher ist es, dass der Autor davon scheinbar nur wenige Impulse für sein Buch aufgegriffen hat. [5] Zu Corrigans Gunsten muss man jedoch in Rechnung stellen, dass er dennoch Pionierarbeit leistet, indem er die zahlreichen Sammelbände zum Essayfilm um eine der rar gesäten Monografien ergänzt; zudem ist es einer der ersten groß angelegten Versuche, diesen Begriff im angloamerikanischen Raum systematisch und über Chris Marker hinaus fruchtbar zu machen, während er in Deutschland und Frankreich bereits seit den 1980er-Jahren als filmwissenschaftliche Kategorie diskutiert wird. [6] Nachvollziehbarer als Corrigan argumentiert Laura Rascaroli in The Personal Camera. Subjective Cinema and the Essay Film, der zweiten größeren englischsprachigen Studie zum Thema. [7] Sie widmet die erste Hälfte dem Essayfilm und differenziert deutlicher zwischen Essay und Essayistischem, um verschiedene Formen des subjektiven Kinos voneinander abzugrenzen. Allerdings stützt sie sich auf etablierte Beispiele von Marker oder Harun Farocki, weshalb Corrigans Vorstoß auf unsicheres Terrain besser geeignet ist, um klärende Diskussionen auszulösen. Eine vergleichende Lektüre ist empfehlenswert.
Corrigan ist sich seiner Vorreiterrolle durchaus bewusst, stolpert aber bedauerlicherweise über seine eigene Argumentation. So gesteht er unumwunden ein, dass sowohl seine Filmauswahl als auch seine theoretischen Bezugsgrößen "might be described as following the essayistic practice" (9). Dieser modus operandi verhindert eine griffigere Durchdringung seines Untersuchungsgegenstandes und potenziert die Schwächen seines unscharfen Essayfilm-Verständnisses. Zur Vertiefung unterbricht Corrigan seine allgemeinen Erörterungen immer wieder durch kursiv gedruckte Abschnitte mit Detailanalysen ausgesuchter Beispielfilme. Daraus resultiert eine 'Parallelmontage', die nicht ohne intellektuellen Reiz ist, doch was vermutlich als stimulierender essayistischer Dialog zwischen Überblick und Fallstudien intendiert war, wirkt aufgrund der oft unvermittelten Übergänge bisweilen störend. Das Buch endet - ganz symptomatisch - abrupt mit einer solchen Analyse, ohne Zusammenfassung. Corrigan bezieht sich ferner mehrfach auf unterschiedliche Positionen zum (meist literarischen) Essay von Lukacs, Benjamin, Huxley oder Adorno, ohne diese Autoren zueinander ins Verhältnis zu setzen. Das garantiert zwar eine Art essayistischer Multiperspektivität, ist jedoch wenig hilfreich, um das Phänomen Essayfilm besser zu verstehen. Statt der Einpassung dieser 'denkenden' Filme in die Theoreme anderer Autoren wäre es eventuell auch gewinnbringender, danach zu fragen, inwiefern in ihnen eigenständige Theorieentwürfe aufscheinen.
Insgesamt scheint Corrigans Berufung auf die literarische Tradition mitverantwortlich dafür zu sein, dass sich seine Untersuchungen filmischer 'Denkprozesse' so offensichtlich an Kommentaren und 'Handlungen' orientieren. Bereits seine oben zitierte ausführliche Definition offenbart Tendenzen zur Nivellierung medialer Unterschiede. Ausgerechnet der für den Essayfilm so zentrale Aspekt einer medienspezifischen "Bildforschung", um einen Begriff Volker Pantenburgs zu zitieren, wird darüber vernachlässigt. [8] Dass Essayfilme ihre Potenziale fast ohne Kommentar vorrangig durch Bilder auszuspielen vermögen, haben nicht zuletzt Peter Braun und Thomas Tode an Johan van der Keukens Het witte kasteel (Das weiße Schloss, Niederlande 1973) überzeugend vor Augen geführt. [9] Diesbezüglich hätte Corrigans intermedialer Seitenblick auf den Foto-Essay ertragreicher sein können. Auch die Präsentationsbedingungen sind hier von Belang, da Werke von Essayfilmern bereits seit geraumer Zeit verstärkt in Kunstmuseen und -ausstellungen anzutreffen sind.
Summa summarum nimmt Timothy Corrigan mit seiner Publikation eine Vorreiterrolle für den angloamerikanischen Sprachraum ein, wo das Phänomen des Essayfilms bislang primär am Œuvre Chris Markers diskutiert wurde und wo es neuerdings berechtigt eine umfassendere Würdigung erfährt. Der Wert als Lehrbuch ist freilich eingeschränkt. Wünschenswert wäre es, wenn seine durchaus anregenden Ansätze durch einen intensiveren Dialog mit der breit aufgestellten europäischen Forschungstradition eine systematischere Fortsetzung erfahren könnten, damit man diesseits und jenseits des Atlantiks endlich mehr Klarheit über den Essayfilm erlangt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Sven Kramer / Thomas Tode: Modulationen des Essayistischen im Film. Eine Einführung, in: Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität, hg. von diesn., Konstanz 2011, 11-26, hier 14f.
[2] Vgl. hierzu das äußerst nützliche Korpus in: Sven Kramer / Thomas Tode (Hgg.): Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität, Konstanz 2011, 325-335.
[3] Dazu äußerte sich der Essayfilmer Harun Farocki bereits im Jahr 2000 kritisch: "Die Kategorie ist so untauglich, wie auch 'Dokumentarfilm' nicht besonders tauglich ist [...]. Wenn im Fernsehen viel Musik gespielt wird, und man sieht Landschaften, dann nennt man das mittlerweile auch schon Essayfilm. Viel Stimmungsmäßiges und nicht eindeutig Journalistisches ist schon Essay" (zit. in: Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006, 148).
[4] Vgl. Kramer / Tode 2011 (wie Anm. 1), 20.
[5] Vgl. Timothy Corrigan: Of Diaries on Film, or the Velocities of Non Place, in: Kramer / Tode: Der Essayfilm (wie Anm. 2) 2011, 125-142, der in großen Teilen mit Kapitel 5 in Corrigans Essayfilmbuch identisch ist (131-153); aufschlussreich ist die unterschwellige Kritik der Organisatoren und Herausgeber des Tagungsbandes, wenn sie anmerken, Corrigan "bezieht [...] sich fast ausnahmslos auf Beispiele aus dem essayistischen Spielfilm" (Kramer / Tode 2011 (wie Anm. 1), 23).
[6] Vgl. Kramer / Tode 2011 (wie Anm. 1), 17ff.
[7] Vgl. Laura Rascaroli: The Personal Camera. Subjective Cinema and the Essay Film, London 2009, v.a. 1-114.
[8] Vgl. den Untertitel von Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006. Er setzt sich zu Recht kritisch mit dem Begriff "Essayfilm" auseinander, reduziert diesen aber vorschnell auf Bild-Ton-Verhältnisse (ebd., 143-163, v.a. 162).
[9] Vgl. Peter Braun / Thomas Tode: Die Erneuerung des Sehens. Zu Johan van der Keuken und seinem Film Het witte Casteel, in: Versuche über den Essayfilm, in: Augen-Blick 10 (Juni 1991), hg. v. Hanno Möbius, Marburg 1991, 113-123.
Ralf Michael Fischer