Anika Bethan: Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen (= Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 365 S., ISBN 978-3-506-77411-8, EUR 48,00
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Nach Lars Peters Werk über die britische Erinnerungskultur [1] liegt nun die zweite Publikation aus der Reihe Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege in der Europäischen Erinnerung vor. Anika Bethan untersucht in ihrer Dissertation "Kontext" und "Funktion" der Erinnerungen an das von Napoleon 1807 gegründete "politische Kurzzeitphänomen" Westphalen. Im Zentrum der Analyse stehen "Kohäsionsprozesse" bestimmter Gruppen (18) respektive die Frage "nach dem Zusammenhang von Erinnerung und kollektiver Identitätsbildung" (29). Besonders sei zu beachten, inwieweit ein "kulturelles Gedächtnis der Nation" "partikulare Geschichtsbilder" bzw. ein "kommunikatives Gedächtnis" in den Hintergrund drängte (32). "Untersuchungskategorien" sind "soziale Gruppen" (33) mit spezieller Beziehung zum kurzlebigen Königreich: Militärs, Beamte und "Aufständische". Dem supranationalen Ansatz der Reihe trägt die Verfasserin Rechnung, indem sie die Spuren des napoleonischen "Modellstaats" auf verschiedenen "Ebenen" (37) analysiert, einer "lokalen", "deutschen" und "europäischen".
Bethans erste Untersuchungsgruppe, das westphälische Militär, wurde nach dem Untergang des napoleonischen Staats "relativ unkompliziert" (62) in die neuen bzw. alten territorialstaatlichen Armeen eingegliedert. Problematisch sei hingegen die "Selbstverortung" (68) der Veteranen nach 1813 gewesen. Die immer dominanter werdenden, "nationalen Selbst- und Fremdbilder" (67), insbesondere antifranzösische Vorstellungen, hätten es nicht erlaubt, die Kriegserlebnisse auf Seiten Napoleons offen positiv darzustellen. Die neuen, alten Landesherren hätten hier gleichsam eine Art "damnatio memoriae" (66) verhängt. Die Schwierigkeit, für die Leistungen auf der "falschen Seite" Anerkennung zu finden, demonstriert Bethan eindrücklich anhand der juristischen Behandlung von Pensionsansprüchen und Soldrückständen aus der westphälischen Periode. In den entsprechenden Gesuchen der Veteranen zeigten sich kaum negative Darstellungen ihrer Dienstzeit zwischen 1807 und 1813. Vielmehr hätten die früheren Militärs ihre Leistungen auf Seiten des Empires in das eigene Bild ihrer Karriere eingepasst. Bethan sieht hier einen "diametralen" Gegensatz zwischen der "territorialstaatlichen und lokalen" Erinnerung (99), also zwischen der Verdrängung der Feldzüge durch die restaurierten Fürsten und deren großer Bedeutung für die Teilnehmer selbst. Letztere hätten durch den Rechtsstreit um ihre finanziellen Ansprüche generell die Erinnerung an den kurzlebigen "Modellstaat" am Leben erhalten.
Dies gelte auch für die westphälischen Beamten. Diese hätten z. B. unter König Jér ôme Krongut erworben, das die restaurierten Territorialherren nach 1813 teilweise wieder enteigneten. Gegenüber den neuen - alten - Regierungen hätten diese "Domänenkäufer" auf der Rechtmäßigkeit des westphälischen Staats und somit auch ihrer Käufe insistiert, gleichzeitig die napoleonische Kreation aber "moralisch" verurteilt (196). Diese gemeinsamen materiellen Interessen, aber auch öffentliche Anfeindungen, hätten die ehemals westphälischen Beamten als Gruppe zusammengeschweißt. Durch ihre Erlebnisse zwischen 1807 und 1813 seien sie zudem "politisiert" worden. Die "konkrete Erfahrung mit der Bürokratisierung und der Wandelbarkeit der politischen Verhältnisse" habe den ehemals westphälischen Staatsdienern ein "neues Selbst- und Politikbewusstsein" (221) gegeben.
Die antiwestphälischen Aufstände schließlich seien im 19. Jahrhundert je nach "politischer Perspektive" als Ausfluss von "Fürstentreue" oder als "Volksaufstand in einem demokratischen Sinne" (228) bewertet worden. Interessanter Weise kann Bethan nachweisen, dass die Verbindung der Aufstände mit dem Thema der "Fürstentreue" (297) z. B. von der preußischen Regierung problematisch gesehen wurde: Schließlich habe es sich um Erhebungen gegen einen - mehr oder weniger - legitimen Fürsten gehandelt. Tatsächlich bewirkten die Insurrektionen laut Bethan eine Politisierung der Bevölkerung, die sich später auch gegen die wieder eingesetzten, angestammten Herrscher richten konnte. Dies hätten z. B. die hessischen Unruhen von 1817, 1819 und 1830 gezeigt (265). "Kohäsionsprozesse" seien unter den Aufständischen "am wenigsten nachweisbar" (312). Das teilweise selbst an den Unruhen beteiligte Bürgertum etwa habe sich später von den Insurgenten aus niederen Gesellschaftsschichten bewusst distanziert.
Die Ergebnisse der sehr breit angelegten Studie lassen sich schwer auf einen klaren Nenner bringen. Dies liegt daran, dass es Bethan im Kern gerade darum geht, die Vorstellung einheitlicher Erinnerungsmuster zu erschüttern. Die Autorin diversifiziert dabei allerdings nach derartig vielen Kriterien - unterschiedlichen Städten, Territorialstaaten, Trägergruppen, Zeitumständen, Nationalitäten, Quellengattungen etc. - dass es mitunter schwer fällt, den Überblick zu behalten. In manchen Punkten bleiben die Resultate eher unspektakulär, etwa hinsichtlich des Blicks auf die "europäische Ebene" der Erinnerung. Hier entsteht der wenig überraschende Eindruck, dass das Interesse am kurzlebigen Satellitenstaat Napoleons außerhalb des deutschsprachigen Raums eher begrenzt war.
Sehr gelungen sind jedoch die Passagen, in denen die Autorin am Beispiel Westphalens ein zentrales Problem der mitteleuropäischen Deutung der napoleonischen Epoche aufzeigt: Die praktisch unmögliche Einordnung der Geschehnisse in klare Freund- / Feindschemata auf Grund wechselnder Bündniskonstellationen. Bethan schildert eindrücklich, wie sich die ehemals westphälischen Militärs weigerten, ihre Erlebnisse und Leistungen unter König Jér ôme plötzlich als Kampf für die "falsche Seite" aus dem Gedächtnis zu streichen oder gar auf finanzielle Ansprüche aus dieser Zeit zu verzichten. Bemerkenswert ist auch der zögerliche Umgang mit den antiwestphälischen Aufständen. Diese waren zwar insofern aus der Sicht des 19.Jahrhunderts "korrekt", als dass sie sich gegen das französische Feindbild richteten. Vom legitimistischen Standpunkt aus war ihr subversiver Charakter jedoch problematisch. Besonders interessant sind die - gescheiterten - Bemühungen der wieder eingesetzten Landesherren, über die westphälische Episode eine "damnatio memoriae" zu verhängen, wie Bethan es formuliert. Hier zeigt sich das Problem der fundamentalen Erschütterung der Herrschaftsansprüche alt eingesessener Dynastien durch die Expansion des revolutionären bzw. napoleonischen Frankreichs. Die Folgen dieser Delegitimation manifestierten sich in der von Bethan aufgezeigten Politisierung von Beamten und Teilen des Volks. In diesem Punkt verdeutlicht die Detailstudie weit über Westphalen und dessen Nachfolgestaaten hinausreichende Tendenzen. Trotz einiger Schwächen handelt es sich daher um einen interessanten Beitrag zur Nachwirkung der Napoleonischen Kriege im 19. Jahrhundert.
Anmerkung:
[1] Vgl. die Rezension zu Lars Peters: Romances of War. Die Erinnerung an die Revolutions- und Napoleonischen Kriege in Großbritannien und Irland 1815-1945, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, in sehepunkte 1 (2013), Nr. 1, URL: http://www.sehepunkte.de/2013/01/21160.html
Sebastian Dörfler