Giuseppe Acerbi: "Terreur" und "Grande Terreur". Zum Strafrecht der Französischen Revolution (= Rechtsgeschichte und Rechtsgeschehen. Kleine Schriften; Bd. 32), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2011, VI + 78 S., ISBN 978-3-643-11462-4, EUR 19,90
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Das vorliegende Bändchen enthält die deutsche Übersetzung eines neueren italienischen Beitrags zur Rechtsgeschichte: La 'Terreur' e la 'Grande Terreur': 'Uno spettro s'aggira per l'Europa', in: Rivista italiana di diritto e procedura penale, Nuova Serie 53 (2010), 799-829. Ein ebenfalls diesem Aufsatz entnommener Anhang ("Normentexte" ["Atti normativi"], 55-70) enthält den Wiederabdruck ausgewählter Dekrete von Legislative, Konvent und 'Conseil de la Commune'. Der Autor ist Jurist und lehrt Wirtschaftsgeschichte an der Mailänder 'Università Cattolica del Sacro Cuore'.
Wie die Anspielung auf das Kommunistische Manifest im ursprünglichen Aufsatztitel bereits andeutet, geht es dem Autor nicht nur um die Analyse des revolutionären Strafrechts der Jahre 1792 bis 1794, sondern zugleich auch um den Nachweis der Auswirkungen dieser Phase auf das 19. und das 20. Jahrhundert. Grundlegend scheint die bekannte liberal-konservative Auffassung von der Französischen Revolution als Matrix aller späteren Totalitarismen zu sein. So angreifbar diese teleologische Zuweisung auch ist, so genau lässt sich doch zumindest dokumentieren, dass die Konventsregierung 1793/94 wesentliche Grundsätze der europäischen Rechtstradition aufhob (doch existierten auch wirkmächtige Unrechtstraditionen) und vorübergehend Formen einer politischen Gesinnungs- und Parteijustiz etablierte, die über die Schaffung des Revolutionstribunals ("tribunal criminel extraordinaire") im Frühjahr 1793 und die berüchtigte 'Loi des suspects' schließlich in die Hinrichtungswellen der 'Grande Terreur' vom Frühjahr 1794 mündete.
Die weitgehend bekannten Vorgänge werden im Zeitraffer resümiert und mit Überlegungen zum allgemeinen Charakter der Entwicklungen kombiniert. Interessant ist hier v.a. der auf engem Raum vor Augen geführte Kontrast zwischen der konstitutionellen Phase der Revolution und den folgenden Jahren. Den grausigen Höhepunkt bilden erwartungsgemäß die so genannten Prairial-Gesetze vom 10. Juni 1794. So ergibt sich eine dramatische Verfallsgeschichte: vom edlen Elan eines Montesquieu, Voltaire und Beccaria über die wegweisenden, jedoch mit Widerständen konfrontierten Reformen von 1789 zu Justizwillkür und Schreckensherrschaft der Jahre 1793/94.
Die Gründe für dieses politische 'Abgleiten' oder 'Entgleisen' des Revolutionsgeschehens im Sinne der bekannten Deutung François Furets werden in einer immanenten Krise der Verfassung von 1791 gesucht. Durch Emigration und königlichen Fluchtversuch von Beginn an kompromittiert, verfügten die Akteure der Legislative in der Umsetzung dieser Verfassung weder über nennenswerte Handlungsspielräume noch über politische Erfahrung und beschritten so beinahe zwangsläufig den Weg in den europäischen Krieg, ein "Punkt ohne Rückkehr" (18). Ausführlich gewürdigt werden hingegen die spezifischen Leistungen der Constituante für eine Humanisierung der Strafjustiz, wobei als historisch-politischer Kronzeuge Robert Badinter fungiert (16-17).
Obwohl der traditionelle, apologetische Hinweis auf die politischen "Umstände" der Radikalisierung der Revolution sehr kritisch betrachtet wird (40), stützen die ausführlich zitierten Interpretationen von Albert Mathiez und Gérard Walter (40-42) in gewisser Weise doch genau diese Argumentation und betonen die pragmatische Notwendigkeit einer entschlossenen Regierung angesichts der umfassenden politischen Krise. Der Autor bemüht sich in diesem entscheidenden Punkt um Ausgewogenheit und verzichtet - in der Kürze der Darstellung völlig verständlich - auf ein eingehenderes Studium beispielsweise der ebenfalls von Walter herausgegebenen Akten des Revolutionstribunals.
Etwas mehr Raum hätte vielleicht der Überlegung eingeräumt werden können, dass lange vor 1789 "politische" Prozesse aller Art Teil der europäischen Rechtsgeschichte waren. Zwar wird das "Vorbild" Karls I. (nicht des II.) und des Prozesses von 1649 kurz erwähnt (23), von traditionellen Inquisitionsverfahren oder dem Kampf der französischen Justiz gegen den Jesuitenorden im 18. Jahrhundert ist hingegen nur beiläufig oder gar nicht die Rede. Die Hinweise auf die anthropologischen Implikationen des Prozessbegriffes und ihren Stellenwert in den Werken von Franz Kafka oder Fritz Lang (43-44) sind interessant, können allerdings eine eingehendere Betrachtung der Entwicklungslogik der 1790er Jahre kaum ersetzen.
Am Schluss des Textes steht ein Plädoyer für Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz und durchgängige Respektierung individueller Grundrechte. Der Autor konstatiert in diesem Bereich bedeutende Fortschritte und sieht die europäischen Gesellschaften in einer mit mancherlei Mängeln behafteten "Übergangsphase" (52) auf dem Weg zur Verwirklichung dieser Zielvorstellungen.
Nützlich ist die erwähnte Zusammenstellung der gut ausgewählten Quellentexte, wobei allerdings erläuternde Einführungen zum Kontext hilfreich gewesen wären. So sind etwa die langen Namenslisten der neu berufenen Justizbeamten ohne weitere Information wenig aufschlussreich (66). Dem am Wortlaut der Dokumente interessierten Leser wäre daher vielleicht eher die Lektüre der sehr viel umfassenderen und doch übersichtlich erschlossenen 'Archives Parlementaires' zu empfehlen, die über die Pariser Nationalbibliothek seit Jahren allgemein zugänglich sind.
Unschön machen sich zahlreiche Flüchtigkeiten in der Übersetzung bzw. in der ursprünglichen Transkription von Fachbegriffen und Eigennamen bemerkbar. So sollte etwa richtigerweise von Constituante (10), Saint-Fargeau (14), 'Haute Cour' (20), 'salut public' (30), Couthon (33), 'Grande Terreur' (36), 'charrette' (53), 'sans-culottes parisiens', 'Archives parlementaires' (die inzwischen bereits 9 Bde. weiter sind als hier angegeben), 'Thermidor' (75), Mazauric (78) etc. die Rede sein. Über Saint-Justs Vorstoß zum rituellen Aspekt der Todesstrafe sollte wohl gesagt werden, dass er infamierende Kleidung für die zum Tode Verurteilten nur fallweise befürwortete (39); Michelets Vater schließlich hat diesem neben "Leiden" wohl auch "Leidenschaft" ["passione"] für die Revolutionsgeschichte vermittelt (75).
Bernd Klesmann