Holger Afflerbach: Die Kunst der Niederlage. Eine Geschichte der Kapitulation (= Beck'sche Reihe; 6074), München: C.H.Beck 2013, 320 S., ISBN 978-3-406-64538-9, EUR 14,95
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Alle Kriege, alle Kämpfe, alle Auseinandersetzungen enden irgendwann. Früher oder später, nach langen und verlustreichen Opfern auf einer oder beiden Seiten, manchmal ohne das auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre. Über die Bereitschaft des Menschen, sich unter Einsatz des eigenen Lebens in Kämpfen und Kriegen dem Gegner zu stellen, ist inzwischen ebenso viel geschrieben und nachgedacht worden, wie über die Bedingungen des notwendigen Gegenstücks des Friedens. Warum Kriege beginnen, wie sie geführt werden, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Ritualen und Verträgen Frieden geschlossen wird, untersucht die Friedens- und Konfliktforschung seit 40 Jahren. Umso mehr überrascht es, wie wenige Aufmerksamkeit dem oftmals schwierigen und für den einzelnen Soldaten schwer einzuschätzenden Übergang vom Kämpfen zum Nicht-mehr-Kämpfen, den Bedingungen von Kapitulation oder Unterwerfung geschenkt worden ist.
Holger Afflerbach gelingt es, in seinem Buch zur Geschichte der Kapitulation in einem Abriss von der Steinzeit bis in die Gegenwart den Blick auf diesen erstaunlich unbeachteten Bestandteil der gesamten Kriegsgeschichte zu richten, der Frage "wie und warum Kämpfe enden" (7). Anders als die bisherige Forschung interessiert den Autor weniger der Übergang in den Friedenszustand mit allen damit verbundenen Bedingungen und Ausgestaltungen von Friedensschlüssen und -verträgen, sondern die Motivation und den Zeitpunkt an dem der Einzelne bereit ist, den Kampf aufzugeben, keinen Widerstand mehr zu leisten und sich der Gnade des Siegers auszuliefern. [1]
Der rote Faden der Argumentation ist - in Anlehnung an Adam Smith - die sogenannte "unsichtbare Hand des Krieges" (8), die sich für Afflerbach notwendigerweise aus dem "Eigeninteresse der Krieg führenden Parteien" ergibt und die "Exzesse und Regelverstöße im Krieg normalerweise bestraft" (267). Das Ende von Kriegen wird mit Clausewitz Worten in der "Vernichtung des Gegners" gesehen. Soldaten, Truppenverbände oder Staaten stellen normalerweise den Kampf ein, wenn eine Fortführung keinen Sinn mehr ergibt. Die Begriffsdefinition Afflerbachs zur Niederlage im Krieg geht dabei über den der Kapitulation weit hinaus und zählt Flucht, Desertation, Gefangennahme und Waffenstillstand gleichwertig dazu (10).
Beginnend mit einer knappen Einführung in das dem Buch zugrunde liegende Erkenntnisinteresse und der mit Kapitulationen verbundenen Symbolik setzt sich der Autor in elf Kapiteln intensiv und mit Hilfe zahlreicher Beispielsfälle mit dem Zeitpunkt und den Mechanismen auseinander, an dem der Einzelne die Entscheidung trifft den Kampf aufzugeben. Den Auftakt machen zwei sehr kursorische Kapitel zur gnadenlosen Gewalttätigkeit der Auseinandersetzungen in vorgeschichtlicher Zeit (18). Auch die brutalen Kriege der Antike standen, so Afflerbach, unter der Maxime: Siegen oder als Verlierer sterben. Eine deutliche Neuerung in den Regeln von Sieg und Niederlage entstand erst im Mittelalter, wenn auch begrenzt auf eine Oberschicht adeliger Krieger. Dem Sieger stand nun materieller Gewinn zu, wodurch dem Unterlegenen im Gegenzug Leben und körperliche Unversehrtheit gewährt wurde. Diese im Mittelalter nur auf eine schmale Schicht Privilegierter angewendeten Rechte wurden in der Frühen Neuzeit auf ganze Heere ausgeweitet. Erstmals kodifiziert wurde dieser Schutz des Verlierers vor der Willkür des Siegers im Zuge der französischen Revolution. In den beiden Weltkriegen setzte sich diese rechtliche Ausdifferenzierung fort, traf aber zugleich auf eine enorme aus dem nationalen Patriotismus gespeiste Opferbereitschaft. Insbesondere im Zweiten Weltkrieg führte diese Verbindung je nach Kriegsschauplatz zu sehr unterschiedlichen Bedingungen für den Unterlegenen. Nach 1945 schritt die Beschränkung von Siegerprivilegien und Verliererrechten weiter fort. Krieg wurde fortan zumindest in der westlichen Welt von einer kritischen Öffentlichkeit als Instrument der Politik mit großer Skepsis betrachtet.
Afflerbach verlässt den chronologischen Aufbau nur für die gesonderte Betrachtung von Niederlage und Kapitulation im Seekrieg. Die vom Landkrieg prinzipiell unterschiedlichen Bedingungen erschwerten es sowohl ganzen Schiffe mit ihren Besatzungen als auch dem Einzelnen in enormen Maße den Kampf vorzeitig zu beenden. Hinzu kam die lange Zeit hinterher hinkende rechtliche Kodifizierung des Aufgebens auf See im Verbund mit einem besonders stark ausgeprägten soldatischen Ehrverständnis.
Deutlich Stellung bezieht der Autor im abschließenden elften Kapitel zur Entwicklung des Aufgebens, indem er versucht die Kampf, Sieg und Niederlage betreffenden "Teile unserer kulturellen Erbschaft" bis an die "Anfänge der Menschheit" zurückzuverfolgen. Eine maßgebliche Veränderung des menschlichen Verhaltens sieht er dabei durch das Fortwirken eines "Ehrenkodex" erschwert, "der in einer archaischen Gesellschaft Sinn" mache, sich aber "nur langsam umformt und geänderten Umständen" anpasse (265).
Dass Afflerbach den Fokus auf den exakten Moment des Streckens aller Waffen verschiebt, ist eine der großen Stärken dieses Buches. Als Essay, nicht als empirische Detailuntersuchungen gedacht [2], bietet Afflerbachs Analyse einen informativen Überblick über die Geschichte der Niederlage, die sich trotz zahlreicher illustrierender Beispiele stringent an der zentralen Frage nach dem Aufhören im Krieg orientiert. Das bis auf wenige Ausnahmen (beispielsweise das kaiserliche Japan im Zweiten Weltkrieg) auf Europa beschränkte Betrachtungsgebiet, ist arbeitsökonomischen Gesichtspunkten geschuldet und vor allem im Hinblick auf die exorbitante Häufigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen im europäischen Raum mit Beginn der Neuzeit auch konsequent.
Der im Vergleich zu den anderen Kapiteln sehr überblicksartige Teil zur Vorgeschichte findet seine Berechtigung in der Funktion für die Gesamtargumentation. Den im Buchtitel angelegten Anspruch einer Gesamtgeschichte nimmt der Autor im Schlusskapitel nochmals auf, in dem er eine allmähliche "Wendung zum Besseren im Kriege" (268) im Laufe der Menschheitsgeschichte postuliert, die sich exemplarisch bei Kapitulation und Niederlage zeigen lasse. Auch die beiden Weltkriege nimmt Afflerbach hier explizit nicht aus, indem er deren enorme Opferzahl in Relation zur Gesamtbevölkerungszahl der kriegführenden Nationen stellt. Diese Perspektive mag sicherlich ihre Berechtigung haben, doch muss angesichts einer zunehmenden Totalisierung der Kriegsformen in der Neuzeit mit Einbeziehung fast aller Gesellschaftssteile die These einer stetigen Verbesserung (zumindest) kritisch hinterfragt werden.
Dass die Geschichte der Niederlage in ihrer Vielfältigkeit wahrlich einer "Kunst" gleichkommt, steht nicht nur programmatisch im Titel des Buches. Die von Autor vorgestellten, über die Jahrtausende entwickelten, Kulturtechniken des Aufhörens im Krieg, vermitteln einen nachhaltigen Eindruck von dem Wagnis das insbesondere der einzelnen Soldat einging, wenn er sich entschloss, den Kampf aufzugeben. Wer sich für die Mechanismen von Niederlage, Kapitulation und Unterwerfung im Krieg interessiert, dem bietet das Buch von Holger Afflerbach eine anregende und gedankenreiche Lektüre.
Anmerkungen:
[1] Zum aktuellen Forschungsstand sowie zum Begriff der Kapitulation vgl. Robin Wagner-Pacifici: The Art of Surrender. Decomposing sovereignty at conflict's end, Chicago / London 2005; Paul Kecskemeti: Strategic Surrender. The Politics of Victory and Defeat, Stanford 1964.
[2] Für einzelne Detailstudien zum Thema sei auf den zeitnah vom Autor mitherausgegebenen Band: Holger Afflerbach / Hew Strachan: How Fighting Ends. A History of Surrender, Oxford 2012 verwiesen.
Margaretha Bauer