Peter Fibiger Bang / Walter Scheidel (eds.): The Oxford Handbook of the State in the Ancient Near East and Mediterranean, Oxford: Oxford University Press 2013, XII + 555 S., 24 Karten und 2 Abb., ISBN 978-0-19-518831-8, GBP 95,00
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Stärker als die verbreiteten "Companions" sind die "Oxford Handbooks" forschungs- und problemorientiert ausgerichtet. Da das Thema antiker Staat einen theoriegeleiteten und vergleichenden Ansatz nahelegt, erscheint das Format dafür bestens geeignet.
In der umfangreichen und mit 229 Endnoten [1] dokumentierten Einleitung "Studying the State" (5-57) durchmustern die Herausgeber das Theorieangebot verschiedener Disziplinen. Dem angelsächsischen Hintergrund des Unternehmens ist wohl geschuldet, dass ausschließlich Vorschläge aus der Sozialanthropologie, der Soziologie bzw. Politikwissenschaft und der Archaeology zu Wort kommen, während juristische (z.B. G. Jellinek) oder historische (W. Reinhard) Ansätze kaum einmal erwähnt werden. Weber und Wallerstein spielen selbstverständlich eine Rolle, auch marxistisch geprägte Theorien. Besondere Aufmerksamkeit finden breit angelegte, vergleichende und typologisierende Entwürfe; wenn diese mit Blick auf die Neuzeit entwickelt wurden, wird immer gefragt, ob sie auf das Altertum und die "region that gradually came to be encompassed by a single political-military network" (3) übertragbar sind. Die Kondensate sind gruppiert unter: Definitionen, Ursprünge, Kategorien (z.B. Stadtstaat und Territorialstaat oder verschiedene Entwicklungsphasen), Eigenschaften und Dynamiken. Imperien und Stadtstaaten haben eigene Abschnitte. Für Althistoriker ist das ein höchst nützlicher und konzentrierter Überblick; man lernt, dass es sehr unterschiedliche Konzepte von Staatlichkeit gibt, etwa "managerial, functionalist, or integrative theories" gegen "conflict or stress theories" (11). Bang und Scheidel gelingen auch treffliche Merksätze. [2] Begriffe wie "Regierung" und "Gesellschaft" werden problematisiert, "state activities" aufgelistet, die günstigste Lage für ein Imperium diskutiert ("marcher position" an einer "metaethnic frontier", 33), die Bedeutung von Krieg und organisierter Gewalt im Prozess der Staatsbildung bestätigt. Was man vermissen kann, sind eine Historisierung der verschiedenen Konzepte [3] sowie Informationen über das methodische Vorgehen und die empirische Validität zumal der vergleichenden Studien. Nur hier und da finden dazu sich aufschlussreiche Bemerkungen: dass etwa Archäologen mit Blick auf die materielle Kultur eher Managementleistungen und die Integration von Akteursgruppen betonen, während Historiker und Soziologen Konflikte und Ungleichheiten herausstellen, wenn diese in schriftlichen Quellen belegt sind (12). Unterbelichtet scheint mir die Bedeutung von Wissen zu sein.
Im kurzen "Prologue" (3-4) fällt die eigenartig defensive Erklärung für den Zuschnitt des Bandes auf; es wird verwiesen auf die Verflechtungen zwischen den Akteuren im westeurasischen Raum und nordafrikanischen Saum; einmal fällt der Begriff "fruchtbarer Halbmond", aber die universalhistorische Tradition etwa eines Ed. Meyer (Altertum, nicht Vormoderne; biblische Welt plus Antike, ohne China und Indien) zu erwähnen hätte den Dezisionismus vielleicht überzeugender begründet als der Hinweis auf "a conventional boundary" und die Grenzen eines einbändigen Werkes.
Die siebzehn Einzelbeiträge sind in vier Abteilungen zusammengefasst: Naher Osten, "Aegean States and their Extensions", Staaten im Zentralmittelmeer (Karthago und Rom) sowie "Transformations of the Ancient State" (im Ergebnis der klassischen Dreiteilung der Mittelmeerwelt folgend: Byzanz, germanische Reiche, erstes islamisches Reich). Den Autoren wurden offenbar keine ganz starren Vorgaben gemacht, aber soweit es Material und Forschung zulassen, stehen Unterabschnitte über die Hauptperioden neben systematischen Teilen (politisches System; Militär; Mechanismen von Integration und Erzwingung; Ressourcenmobilisierung; Streitschlichtung und Ordnungsdurchsetzung usw.; vgl. 4), so dass Bausteine für typologische Vergleiche entnommen werden können. Dabei hilft das Register (539-555). Der Vergleich etwa mit frühneuzeitlichen Formationen wird vor allem im Beitrag von Bang zur römischen Kaiserzeit durchgängig gezogen (s.u.). Andere Autoren informieren eher in Handbuchmanier. Generell und mit Recht wird "Staatsbildung" als ständiger, nie beendeter Prozess betrachtet (vgl. etwa 280; 449ff.). Nur einige der durchweg dichten und instruktiven Beiträge aus der Feder von Spezialisten können im vorgegebenen Rahmen besprochen werden.
Joseph G. Manning folgt für Ägypten (61-93) zwar der gängigen Periodisierung, hebt aber die kreative Dynamik der regionalistischen Phasen hervor (75). Wie immer, wenn man näher hinschaut, lösen sich gängige Vorstellungen auf: Ägypten unterlag sehr wohl starken Veränderungen (gegen das Bild eines statischen "Alten Orients"); Bewässerung war keineswegs Produkt und Ausdruck einer starken Zentralgewalt, sondern wurde lokal koordiniert "without much state interference" (64, gegen Wittfogel; vgl. 68ff.); die um den Pharao zentrierte Allgewalts-Ideologie sollte den Herrscher über "diffuse, socially stratified local power structures" erheben (69); es gab in pharaonischer Zeit durchaus Zentren, die sinnvoll als "Städte" anzusprechen sind. Selbstverständlich sind die Rekonstruktionen der Spezialisten stets sehr viel differenzierter und komplexer als die mit breitem Pinsel gemalten Entwürfe von Universalhistorikern (früher) beziehungsweise vergleichend-historisch arbeitenden Soziologen (heute). Aber dem Band gelingt es meistens, die Balance zu wahren und die Spezialforschung mit den stärker abstrahierenden Entwürfen zusammenzubringen. Dazu trägt bei, dass die einleitend zusammengetragenen Kategorien in den Beiträgen vielfach auch tatsächlich umgesetzt werden. So sind mit "Ancient Near Eastern City States" (Steven J. Garfinkle, 94-119) und "Mesopotamian Empires" (Gojko Barjamovic, 120-160) zwei grundlegende, genetisch aufeinander folgende, später aber auch koexistierende Ordnungsmodelle zusammengerückt, ergänzt um je ein Kapitel über anatolische und jüdische Staaten sowie iranische Reiche (Trevor Bryce, Seth Schwartz; Josef Wiesehöfer).
Aus den soliden Überblicken zur griechischen Welt [4] sticht "Greek Multicity States" (Ian Morris, 279-303) heraus. Der Autor, der zuletzt einen großen universalgeschichtlichen Entwurf, dominiert von Parametern wie Ökonomie, Ökologie, Militär und Wettbewerb, vorgelegt hat [5], versteht Sparta, Athen und Syrakus als interessante, sehr verschiedene Ansätze für die Polis transzendierende Staatsbildungen: Sparta als zwangsintensives, Athen als kapitalintensives Modell, Syrakus eine Kombination von beidem (283). Runcimans These, eine stabile Großstaatsbildung in der griechischen Poliswelt sei gescheitert, weil deren Institutionen zu demokratisch waren, um eine Konsolidierung von Macht an der Spitze zu ermöglichen, weist er mit guten Gründen zurück. Eher seien die lokalen Peripherien durch Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum im Vergleich zum Zentrum stärker geworden; hinzu kamen ein kultureller Partikularismus und der Ausfall jeder religiösen Legitimation, wie sie für zentralisierte Systemen meistens konstitutiv war. Aber Morris versteht seine 'Big History' eben nicht als Wiederkehr gesetzmäßiger Prozess- (oder Verhängnis-)erklärungen im Sinne von Spengler oder Toynbee: Viel stärker als in fast allen anderen Beiträgen kommt bei ihm das Ereignis im Rahmen von Kontingenz zu seinem Recht. Athen sei es durchaus gelungen, im 5. Jahrhundert "a fairly robust Ionian multicity state" zu errichten, aber nach dem katastrophischen Versagen bei Aigospotamoi und der Niederlage ein Jahr später fehlten Zeit und Ressourcen, um das durchaus erfolgreiche Modell zu rekonstruieren (298f.). Morris hätte hinzufügen können: Zu den Paradoxien, von denen die Geschichte der Staatsbildungen voll ist (285), gehörte es, dass der Erfolg des athenischen Modells im 4. Jahrhundert Nachahmer hervorbrachte, denen für kurze oder längere Zeit eine gleichsam nachholende Formierung von "multicity states" gelang (Theben, Thessalien, Makedonien) - und die damit zugleich Athen den Weg zurück zur Hegemonie versperrten.
Walter Amelings Überblick zu Karthago (361-382) zeichnet die Grundlinien gut nach, aber dem Gesamturteil liegt eine implizite Norm zugrunde: Die Stadt war nach ihren expansiven Erfolgen nicht in der Lage, "to create a tightly knit empire", und ihren Staat an "their status as masters of a large empire" anzupassen (379), was zu einem "lack of unity" (380) führte. Hier erscheint wie schon bei Alfred Heuß vor siebzig Jahren das Imperium Romanum als Maßstab, mit der Kaiserzeit als Telos.
Henrik Mouritsen gelingt eine dichte, lesenswerte Skizze (383-411) der römischen Republik auf der Höhe des Forschungsstandes zur politischen Kultur (u.a. Eigenheiten der Verfassung, Regeln oligarchischer Herrschaft, Rolle des Volkes). Den Mitteilungen zur Herrschaft über Italien ist deutlich mehr Raum gegeben als der Expansion darüber hinaus. "The Fall of the Roman Republic" auf zwei Seiten zu kondensieren kann nur gelingen, wenn zu Eingeweihten gesprochen wird, aber die Reihe richtet sich ja nicht an Anfänger (s.o.).
Dürfte der Rezensent nur einen einzigen Beitrag des Bandes zum intensiven Studium empfehlen, so fiele die Wahl gewiss auf "The Roman Empire II: The Monarchy" aus der Feder des Mitherausgebers Bang (412-472). Schon der Einstieg setzt den Ton: Nicht RGDA 34 berge das Arcanum des augusteischen Prinzipats; vielmehr verweise Kap. 17 auf das Explanandum der imperialen Monarchie: "a stable institutional arrangement had been created to finance the cost of the army and the discharge of soldiers". In der Tat hat das Studium von Imperien und "state building" der Neuzeit gelehrt, wieder weniger auf auctoritas, Charisma und den kulturellen Integrationsapparat zu schauen, sondern Ressourcenmobilisierung, Heeresfinanzierung sowie die handfesten Interessen von Zentralgewalt und Peripherie, Eliten und Soldaten in den Blick zu nehmen. Mit voller Verfügung über die neuere Forschung und auf höchstem Reflexionsniveau erörtert Bang drei Hauptfaktoren der imperialen Stabilisierung: die militärische Organisation der Hegemonie, die kaiserliche Herrschaft als Ausbau eines patrimonialen und höfischen Systems sowie die Integration provinzialer Eliten in die Regierung. Ein abschließender Teil behandelt die Veränderungen in der Spätantike. Es mag manchem Leser gewöhnungsbedürftig oder sogar als Ausfluss eines "neoliberalen" Modells erscheinen, den Erfolg des 'ewigen Rom' in seinem "near monopoly in the market for violence and protection" (419) zu sehen, sich in Tabellen über Mobilisierungsquoten und die Korrelation von Heeresgröße und Wirtschaftsentwicklung einzulesen oder den Zusammenbruch der Zentralgewalt im Westen und den Aufstieg germanischer Herrschaftsformationen als den Sieg des kostengünstigeren Sicherheitsangebots bei reduzierter Rundumleistung zu verstehen (459). Aber es lohnt sich. Und Bang vermittelt keineswegs eine ökonomistisch reduzierte Sicht auf das Imperium; was er über die Reichsaristokratie, die lex de imperio, die kaiserliche Imago gegenüber den verschiedenen Gruppen, die Rolle der Statthalter ("delegates of the court": nicht Administration, sondern Kommunikation und Demonstration in die Peripherie, 436f.) und viele andere Gesichtspunkte zu sagen hat, bietet eine höchst instruktive, in Teilen aufregende Lektüre. So bestimmt er die Stellung der Eliten jenseits der gängigen Vorstellungen (Konsens, Integration, Selbstromanisierung) als Mitwirkung an einer "Oikumene", "a universalizing yet fractured elite discourse comprising the world's diversity" (440). Auch die sog. Krise des 3. Jahrhunderts und die folgenden Reformen, die Bang schon mit Aurelian beginnen lässt, werden erhellend und mit Mut zur Zuspitzung ("a new process of state formation"; "provincial takeover of the Roman world", 449; Weber'sche Scheidung von aristokratisch-patrimonialer und bürokratischer Herrschaft für die antike Mittelmeerwelt nicht haltbar, 456) erörtert. Es erscheint reizvoll, auf dem Grundriss dieses Artikels einmal ein Oberseminar zu errichten.
Wer einen weberianisch inspirierten Zugang zur Alten Welt in ihrer Breite und auf aktuellem Forschungsstand sucht oder 'seinen' Beritt typologisch-vergleichend einordnen möchte, wird mit diesem ordentlich lektorierten [6], aber teuren Band bestens bedient.
Anmerkungen:
[1] Die anderen Beiträge haben lediglich Verzeichnisse der zitierten Literatur; Belege sind in den Text integriert. Es fehlen kommentierende Hinweise zum Gang und Stand der Forschung.
[2] Etwa auf Seite 12: "While integrative theories see inequality as a result of the state, conflict theory requires it to be antecedent." Nicht überraschend bei einem - für Historiker generell naheliegenden - eklektisch-synthetischen Theoriegebrauch: Beide Ansätze schließen einander nicht aus, sondern betonen verschiedene Aspekte in miteinander zusammenhängenden Prozessen; ähnlich 25 (Zentralisierung und korporative Strategien in der Staatsbildung).
[3] Nicht mehr berücksichtigt werden konnte offenbar Vicente Lull, Rafael Micó: Archaeology of the Origin of the State. The Theories, Oxford 2011. Vgl. ferner in Kürze Christoph Lundgreen: Staatlichkeit in Rom? - Diskurse und Praxis (in) der römischen Republik, in: ders. (Hrsg.): Staatsdiskurse (in) der römischen Republik, Stuttgart 2014, der u.a. die Brauchbarkeit des Staatsbegriffs für die Antike verteidigt.
[4] John Bennet über die Bronzezeit (235-258), Mogens Hansen über die City-States (259-278), Emily Mackil über die Koina (304-323) und John Ma über die hellenistischen Reiche (324-357).
[5] Ian Morris: Why the West rules - for now. The patterns of history, and what they reveal about the future, New York 2010 (dt.: Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, Frankfurt/M. 2011); ders.: The measure of civilization: how social development determines the fate of nations, Princeton 2013. Für Athen s. ausführlicher ders.: The Greater Athenian State (478-404 BC), in: ders. / Walter Scheidel (eds.): The Dynamics of Ancient Empires. State power from Assyria to Byzantium, New York 2009, 99-177.
[6] Nur auf Seite 404 ist ius conubium et commercium allen prüfenden Augen entgangen.
Uwe Walter