Rezension über:

Elisabeth Özdalga (ed.): Late Ottoman Society. The Intellectual Legacy (= SOAS/RoutledgeCurzon Studies on the Middle East; 3), London / New York: Routledge 2005, XVII + 348 S., ISBN 978-0-415-66544-5, GBP 28,00
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Rezension von:
Veruschka Wagner
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Veruschka Wagner: Rezension von: Elisabeth Özdalga (ed.): Late Ottoman Society. The Intellectual Legacy, London / New York: Routledge 2005, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/22880.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten "Das Osmanische Reich"" in Ausgabe 13 (2013), Nr. 11

Elisabeth Özdalga (ed.): Late Ottoman Society

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Welchen Einfluss Persönlichkeiten und Ereignisse des Osmanischen Reiches im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auf die neu gegründete Türkische Republik hatten, wird in dem von Özdalga herausgegebenen Sammelband auf ausgezeichnete Weise erörtert. Das Buch selbst ist das Ergebnis einer Konferenz, die 2001 in Istanbul abgehalten wurde und sich mit der osmanischen Elite und deren Erbe befasste. Die Hauptfrage, der Özdalga nachgeht, ist die, ob sich die osmanischen Intellektuellen zum Ende des Osmanischen Reiches mit den grundsätzlichen politischen und gesellschaftlichen Problemen ihres Landes beschäftigt haben. Dabei hat sie als Folie Intellektuelle der heutigen Türkei vor Augen, die sich, so ihre Meinung, eben nur wenige kritisch mit den drängenden Herausforderungen ihres Landes auseinandersetzen. Sie möchte daher untersuchen, ob eine ähnliche Haltung schon damals der Normalfall gewesen ist. Özdalga ist letzten Endes der Ansicht, der Modernisierungsprozess im 19. Jahrhundert habe nicht nur auf dem administrativen und wirtschaftlichen Sektor, sondern auch im Bildungsbereich wie in ideologischer Hinsicht weitreichende Auswirkungen gehabt. [1] Daher werden in dem Sammelband die Intellektuellen in Zusammenhang mit Institutionen, vor allem Bildungseinrichtungen, öffentlichen Ämtern und der Presse erörtert.

Der vorliegende Band besteht aus zehn Artikeln, die sich vor diesem Hintergrund mit dem intellektuellen Leben des späten Osmanischen Reiches befassen. Im Mittelpunkt stehen dabei einzelne Denker, Angehörige der Ulema, die Presse und das Bildungswesen. Im ersten Beitrag verfolgt Erik-Jan Zürcher die osmanischen Wurzeln der nationalistischen Ideologie der Türkischen Republik. Er untersucht dafür vier der sechs Pfeile (altı ok) des Kemalismus (Säkularismus, Nationalismus, Reformismus und Populismus) hinsichtlich ihres osmanischen Ursprungs. [2] Dabei bezieht er sich auf drei wichtige osmanische Intellektuelle dieser Zeit: Ahmet Rıza, Ziya Gökalp und Abdullah Cevdet. Deren jungtürkische Ideologie sei vom französischen Positivismus geprägt, so Zürcher, und habe sich auf das politische Gedankengut der Türkei ausgewirkt. Ebenfalls anhand einzelner Personen beschäftigt sich Şükrü Hanioğlu im zweiten Beitrag mit dem Einfluss des deutschen und französischen Materialismus auf die spätosmanischen Intellektuellen und befasst sich dazu mit Beşir Fuad, Abdullah Cevdet und Baha Tevfik. Der späte osmanische Materialismus, der auf eine rationale Gesellschaft basierend auf Wissenschaft abzielte, stand im Konflikt mit der Religion. Hanioğlu stellt die verschiedenen Ansichten dieses komplexen Themas dar und arbeitet heraus, wie diese in die offizielle Ideologie der heutigen Türkei durchgedrungen sind. Mit dem wohl bekanntesten osmanischen Historiker des 19. Jahrhunderts, Ahmed Cevdet Paşa, und dessen Haltung gegenüber dem Staat befasst sich Christoph Neumann in seinem Artikel. Cevdet verstünde demnach den Staat als autoritär, aber funktional. Diese Auffassung ("the state, holy and hollow" [127]) dauert, laut Neumann, bis heute an. Während diese drei Autoren in ihren Beiträgen den Fortbestand des osmanischen Erbes in der Türkischen Republik beschreiben, verweist Ismail Kara auf den Bruch zwischen der modernen Türkei und ihrem Vorgängerstaat. In seinem Beitrag "Turban and Fez" rückt er die Rolle der Ulema als Opposition gegen Sultan Abdülhamid II in den Mittelpunkt, die sich teilweise mit den Jungtürken zusammenschloss. Anhand ausgewählter Pamphlete und anderer Veröffentlichungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die von Mitgliedern der Ulema verfasst wurden, analysiert Kara deren sich wandelnde Weltansicht. Eine Gruppe moderner Intellektueller sei dabei, so der Autor, aus den Ulema hervorgegangen, nach der Gründung der Türkischen Republik jedoch wieder verschwunden. Am Beispiel der Muftis von Damaskus und Beirut untersucht dann Jakob Skovgaard-Petersen in seinem Artikel ebenfalls die osmanischen Religionsgelehrten. Er verfolgt den Prozess der Modernisierung dieser Gruppe und die Entstehung einer modernen intellektuellen Schicht nach dem Ende der osmanischen Herrschaft. Während in der Türkischen Republik die Ulema abgeschafft wurden, blieben sie in der Levante Teil der administrativen und intellektuellen Elite. In seinem Beitrag über Pan-Islamismus, den er sowohl als eine politische als auch religiöse Bewegung betrachtet, unterscheidet Adeeb Khalid drei Modi: 1) Pan-Islamismus als eine Spielart des religiösen Fanatismus, wie er weitestgehend von Europäern verstanden wird, 2) Pan-Islamismus als osmanische Staatspolitik und 3) Pan-Islamismus als eine neue Form der Verbundenheit, die die muslimische Elite zusammenbrachte. Für das Osmanische Reich bedeutete der Zusammenhalt einer muslimischen Einheit ein Mittel, um den Staat zu retten. Khalid ordnet den Pan-Islamismus weniger dem Islam als dem Nationalismus zu. Auch sein Erbe sieht er nicht in einem einheitlichen muslimischen Staat, sondern als Varianten des muslimischen Nationalismus.

Der Sammelband ist insgesamt sehr übersichtlich aufgebaut. Nach einer Auflistung der Beitragenden, einem Vorwort und einer Danksagung folgt die Einleitung von Özdalga, die eine kurze Zusammenfassung der einzelnen Artikel enthält und somit einen guten Überblick über das Gesamtwerk liefert. Abgerundet wird der Sammelband, der einen wichtigen Beitrag zur späten osmanischen Geschichte liefert, durch Illustrationen und einen Index. Fast alle - auch die hier nicht einzeln aufgeführten - Beiträge basieren auf Primärquellen und Archivmaterial. Sie verweisen auf den Fortbestand oder den Bruch zwischen der intellektuellen Geschichte des Osmanischen Reiches und der frühen Türkischen Republik oder aber auf den Einfluss des Auslandes. Der Sammelband liefert einen guten Ansatz für weitere Forschung, der es sicherlich zu diesem Thema noch bedarf.


Anmerkungen:

[1] Zum osmanischen Bildungsbereich sind in den letzten Jahren zwei umfassende Monographien erschienen: Benjamin Fortna: Imperial Classroom. Islam, the State, and Education in the Late Ottoman Empire, Oxford 2003 und Selçuk Akşin Somel: The Modernization of Public Education in the Ottoman Empire 1839-1908. Izlamization, Autocracy and Discipline, Leiden 2001.

[2] Bereits in seinem 1993 erstmals erschienen Buch Turkey. A Modern History geht Zürcher dem Aspekt der Kontinuität zwischen dem Osmanischen Reich und der modernen Türkei nach.

Veruschka Wagner