Orhan Pamuk: Schnee. Roman. Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann, München: Carl Hanser Verlag 2005, 520 S., ISBN 978-3-446-20574-1, EUR 25,90
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Nach "Die weiße Festung" (1990), "Das schwarze Buch" (1995), "Das neue Leben" (1998) und "Rot ist mein Name" (2001) ist "Schnee" (2005) der fünfte auf Deutsch erschienene Roman des türkischen Autors Orhan Pamuk. Dieser wurde 1952 als Sohn einer wohlhabenden bürgerlichen Familie in Istanbul geboren, wo er auch heute noch lebt. Seine Bücher sind in 34 Sprachen übersetzt und in über 100 Ländern erschienen. Der Autor erhielt zahlreiche Literaturpreise und Auszeichnungen. Weltberühmt wurde er nicht zuletzt durch die Verleihung des Literatur-Nobelpreises im Jahre 2006.
Das Nobelpreiskomitee lobte unter anderem die Vermittlerrolle, die der Preisträger zwischen Orient und Okzident spielt. Ein Teil der türkischen Medien stand der Auszeichnung allerdings sehr skeptisch gegenüber. Man war nicht bereit, zwischen dem literarischen Werk und der Person des öffentlichen Lebens, die der Autor in der Türkei mittlerweile darstellt, zu trennen. Pamuks Bücher wurden als gesellschaftskritische Texte rezipiert und stets in direkten Zusammenhang mit den politischen Ansichten ihres Verfassers gebracht. Eine unvoreingenommene Bewertung seiner schriftstellerischen Leistung war daher nur bedingt möglich.
2005 erhob man wegen einer Aussage, die Orhan Pamuk während eines Gesprächs mit einer italienischen Zeitung gemacht hatte, in Istanbul Anklage gegen ihn. Pamuk hatte sich in dem Interview zu dem Genozid an der armenischen Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts geäußert und gesagt, dass damals 30.000 Kurden und eine Million Armenier in der Türkei ermordet worden seien. Dies genügte, um ihn auf der Grundlage von Paragraph 301 des türkischen Gesetzbuches wegen "öffentlicher Herabsetzung des Türkentums" vor Gericht zu bringen. Das Verfahren gegen ihn musste später eingestellt werden. Wie schwierig aber das Leben eines Literaten in der Türkei heutzutage unter Umständen sein kann, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass sich kurz darauf auch die Schriftstellerin Elif Şafak mit der gleichen Anklage konfrontiert sah, nur weil sie in ihrem letzten Roman "Baba ve piç" ("Der Vater und der Bastard") eine Figur von dem "Völkermord der Türken an den Armeniern" sprechen lässt.
Kurden und Armenier sind ein Reizthema in der Türkei, so dass Pamuk von türkischen Nationalisten als "Vaterlandsverräter" tituliert wurde. Und im Jahresrückblick einer türkischen Zeitung nannte man die Verleihung des Nobelpreises an den türkischen Autor in einem Atemzug mit negativen Ereignissen wie dem Anschlag auf einen Richter im Oberlandesgericht, das Versterben Bülent Ecevits, Führer der demokratischen Linken, und dem Stagnieren der Verhandlungen über den EU-Beitritt der Türkei. Manch einer riet ihm sogar, den Preis abzulehnen.
"Die Stille des Schnees" - mit diesen Worten beginnt das gleichnamige erste Kapitel des Buches "Kar" ("Schnee") von Orhan Pamuk, erschienen im Hanser Verlag. Der im deutschen Exil lebende Dichter Kerim Alakuşoğlu, kurz Ka, reist in dem Roman anlässlich des Todes seiner Mutter von Frankfurt aus nach Istanbul. Von dort begibt er sich in die türkische Provinzstadt Kars, um im Auftrag der Zeitschrift "Die Republik" zum einen zu einer Reihe von Selbstmorden junger Mädchen zu recherchieren und zum anderen über die in dem Ort anstehenden Bürgermeisterwahlen zu schreiben. "Ich bin gekommen, weil ich sehr unglücklich war", sagte Ka. "Hier bin ich glücklicher [...]". In Kars trifft er auch seine Jugendliebe Ipek. Er beginnt wieder zu dichten, was ihm jahrelang nicht mehr gelungen ist, und träumt davon, Ipek zu heiraten und mit ihr zusammen nach Deutschland zurückzukehren. Aufgrund des unaufhörlichen Schneefalls wird die Stadt von der Außenwelt abgeschnitten. Ka erlebt aus der Nähe die örtlichen politischen Machenschaften und Intrigen. Es geht um Islamisten, kurdische Nationalisten, Linke und Soldaten. Bei einer Theateraufführung kommt es zu einem Militärputsch, in dem Ka eine Art Vermittlerrolle zwischen den verschieden Akteuren übernimmt.
Der Roman ist trotz der für die türkische Sprache und Orhan Pamuk typischen langen und verschachtelten Satzkonstruktionen sehr gut lesbar. Die deutsche Übersetzung allerdings lässt zu wünschen übrig, da sie sich allzu sehr an die türkischen syntaktischen Gefüge hält. Die Bezüge bleiben oftmals unklar, wodurch der Lesefluss unnötigerweise ins Stocken gerät. Die Geschehnisse werden hauptsächlich aus der Sicht des Dichters berichtet, obwohl es einen übergeordneten Ich-Erzähler - ein Freund von Ka - gibt. Dieser schaltet sich jedoch erst ein paar Seiten nach Beginn des Romans ein, um im Verlauf der Geschichte hin und wieder die Ereignisse aus seiner Perspektive zu beschreiben.
Auf die Frage, wie ihm Kars gefalle, antwortet Ka: "Sehr schön, sehr arm, sehr traurig." Eine gewisse Melancholie, die typisch für die Werke Pamuks ist, durchzieht den gesamten Text. Die durch den stetig fallenden Schnee geschaffene Atmosphäre hat sowohl einen bedrückenden wie auch einen befreienden, reinigenden Charakter. Beinahe in jedem Kapitel äußert sich Ka geradezu enthusiastisch über die unablässig herabrieselnden Flocken. Bezeichnenderweise gibt er einer Gedichtsammlung, die er in der Zeit in Kars anfertigt, den Titel "Schnee".
Wie schon in seinen vorangegangenen Büchern traktiert Pamuk auch in diesem Roman sehr geschickt und literarisch auf höchstem Niveau auch die in der heutigen Türkei drängende und aktuelle Frage nach der eigenen Identität. Zentral ist dabei natürlich der Konflikt zwischen Islam und Moderne. Der Autor greift in seinen Werken immer wieder die Gegensätze und Konflikte auf, die in seiner Heimat durch das Zusammentreffen der östlichen und westlichen Kulturkreise entstehen. Er setzt sich kritisch mit den Problemen der Türkei auseinander, hinterfragt den Laizismus und den politischen Islam und stößt daher sowohl bei Islamisten als auch bei Kemalisten auf heftige Reaktionen. "Der Roman ist eine Provokation!", lautet eine häufig gehörte Beschuldigung. Manche Bewohner Kars fühlten sich angegriffen, da die Figuren so wirklichkeitsnah gezeichnet seien, der Roman aber keineswegs die Wirklichkeit widerspiegelte. Ganz offenbar scheint in der Debatte um den Schriftsteller das Bewusstsein darüber völlig verloren gegangen zu sein, dass ein Roman keine Abbildung der Realität darstellt, sondern eine fiktive Erzählung ist.
Pamuk ist in seinem Heimatland als Gesellschaftskritiker bekannt geworden, obwohl er sich selbst in erster Linie als Schriftsteller und nicht als politischen Autor sieht. So wäre es doch auch wünschenswert, eine Trennung zwischen dem literarischen Text und dem Text, der als Politikum wirkt, zu schaffen. Das Werk sollte - vom Autor losgelöst - auf einer literarischen Ebene betrachtet werden. Bei der Textanalyse den Schwerpunkt auf seine politischen Aspekte zu legen und ihn nur in Zusammenhang mit dem politisierten Orhan Pamuk zu sehen, wird sich mittelfristig als inakzeptabel und unergiebig erweisen. Eine in erster Linie literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Œuvre steht weitgehend noch aus.
Ein wenig beruhigt, dass vereinzelt gemäßigte türkische Zeitungen ihre Freude über Orhan Pamuk als ersten türkischen Literaturnobelpreisträger zum Ausdruck gebracht haben. Sie sind von den schriftstellerischen Fähigkeiten Pamuks überzeugt und sehen dies als bedeutenden Schritt für die türkische Literatur.
Die Lektüre des Romans lohnt sich auf jeden Fall, zumal gute Literatur in der Regel viel tiefer und intensiver in gesellschaftliche Probleme, Themen und Ambivalenzen eintauchen kann als wissenschaftliche Abhandlungen.
Veruschka Wagner