Michael Hohlstein: Soziale Ausgrenzung im Medium der Predigt. Der franziskanische Antijudaismus im spätmittelalterlichen Italien (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit; Bd. 35), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, VIII + 305 S., ISBN 978-3-412-20297-2, EUR 44,90
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Dass die franziskanischen Wanderprediger einen beträchtlichen Einfluss auf die Eskalation antijüdischer Gewalt im Spätmittelalter hatten, ist ein Gemeinplatz. Wie groß und welcher Art dieser Einfluss war, ist seit Mitte der 1980er-Jahre im Umfeld der Studie von Jeremy Cohen heftig diskutiert worden. Dennoch fehlt es nach wie vor an ausführlichen Fallstudien, die diesen Allgemeinplatz verifizieren und differenzieren. Michael Hohlstein nimmt sich mit "Soziale Ausgrenzung in der Predigt", das die Druckfassung seiner bereits 2004 eingereichten Dissertation darstellt, nicht explizit vor, eine solche Fallstudie vorzulegen. Er stellt gar nicht erst in Frage, dass die Judenfeindschaft der religiösen Orden, vor allem der Bettelorden, Wegbereiter war für das Ende der relativ friedlichen Koexistenz von Christen und Juden in Italien im 15. Jahrhundert, und nimmt sich statt dessen eine Differenzierung der franziskanischen Predigtstrategien vor. Er fragt danach, ob die Franziskaner neben religiösen auch "andere Deutungskulturen wert- oder zweckrationaler Art" (10) benutzten, um die Judenfeindschaft zu propagieren. Weiterhin definiert er Predigt explizit als Medium zur politischen Kommunikation und fragt, ob von den franziskanischen Predigten ein Judenbild mit "handlungsleitender Wirkung" (10) ausging.
Der Hauptteil besteht aus den Kapiteln "Antijudaismus in der Predigt" und "Predigt im Kontext politischer Praxis". Ersteres untersucht, ob und inwieweit die allgemein bekannten Bestandteile der christlichen Judenfeindschaft in den franziskanischen Predigten auftauchen. Der Fokus liegt auf der Modellierung der Grenzen jüdisch-christlicher Koexistenz, wie sie die Franziskaner diskutieren. Zunächst arbeitet Hohlstein die kaum divergierenden Ansichten der Franziskaner über die Möglichkeiten und Grenzen der Judenmission heraus, die sämtlich darauf hinausliefen, die Juden, denen es meist ohnehin an Verstand mangele, nicht missionieren zu wollen, sondern auf ihre endzeitlich zu erwartende vollständige Bekehrung zu warten. Die Konstruktion der Juden als einer Gruppe ohne moralischen Halt, ohne Einsicht in die zentralen christlichen Tugenden und Werte und ohne Vernunft, diesen Zustand zu ändern, war ein zentraler Bestandteil der Predigtbotschaft, die insgesamt auf die Forderung hinauslief, Juden soweit als möglich aus der christlichen Lebenswelt zu entfernen. Hohlstein arbeitet diese Grundlinien aus seinem Material heraus und verweist dabei immer wieder auf die Differenzen zwischen den Sermones einerseits und der kanonischen Gesetzgebung sowie päpstlichen Forderungen nach einer tolerantia iudaeorum andererseits. Die italienischen Franziskaner erscheinen damit als eine Gruppe, die energisch eine Radikalisierung und Verschärfung der bestehenden Politik der (urbanen) Separation betrieben. In diesem Kapitel fällt es der Leserin oftmals schwer zu sehen, ob Hohlstein die aufgefundenen Elemente antijüdischer Ideologie als unik für das italienische Predigtmaterial ansieht, da Kontextualisierungen und Verweise auf ähnliche Phänomene in anderen europäischen Regionen und in anderem Material fehlen - obgleich diese leicht aus der umfassenden Literatur hätten gezogen werden können.
Für das zweite Kapitel, "Predigt im Kontext politischer Praxis", verlässt Hohlstein die reinen Predigttexte und bezieht die städtische Überlieferung mit ein, um die franziskanischen Predigten situativ zu beschreiben - die Planung von Besuchen der Wanderprediger durch den Magistrat, Einladungen und Empfang werden anschaulich nachgezeichnet. Auch Versuche der Einflussnahme auf den Predigtinhalt sind überliefert, etwa Bitten, auf Missstände einzugehen, die den städtischen Obrigkeiten ein besonderer Dorn im Auge waren. Antijüdische Inhalte dagegen wurden von kirchlichen und weltlichen Herrschaftsträgern eher zu unterbinden versucht denn gefordert, vor allem aufgrund der Furcht vor spontanen Pogromen und Ausschreitungen. Als handlungsleitendes Motiv der Obrigkeiten erscheint damit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die zunächst durch eine geordnete Inszenierung der Predigten gefördert werden sollte; dann, wenn diese nicht die gewünschten Resultate der sittlichen Besserung erzielte, wurden Konflikte mit den Predigern bis hin zu deren Ausweisung aus den Städten ausgetragen. Erneut sind es hier gemäß Hohlsteins Untersuchung einzig die Franziskaner selbst, die ein Interesse an antijüdischer Hetze hatten. Als Ursache dieser divergierenden Zielsetzungen macht er die Tatsache aus, dass die Franziskaner rein religiös argumentierten, die städtischen Obrigkeiten neben den religiösen aber auch politische und ökonomische Ziele verfolgten.
Insgesamt bietet die Studie eine überwältigende Menge detaillierter Quellenarbeit, mangelt aber an Strukturierung und Modellierung entweder durch die Orientierung an einer Hauptthese - hier hätte ein deutlicherer Bezug auf Cohen helfen können - oder durch eine theoretische Grundlegung. Hierbei hätte entweder neuere Forschungsliteratur zum Thema mittelalterliche Predigt einbezogen, oder ein eigenständiger Begriffsapparat für die Strukturierung des Materials entwickelt werden sollen. Die in der Einleitung genannten Weber und Luhmann dienen wie so oft eher als Stichwortgeber denn als theoretische Grundlage, die die Untersuchung leitet. Hier und an anderen Stellen rächt es sich, dass Hohlstein nur in Ausnahmefällen die Forschungsliteratur seit 2004 für die Druckfassung seiner Dissertation nachgearbeitet hat - die Anthologie "Charisma and Religious Authority" etwa von Katrin L. Jansen und Miri Rubin enthält sowohl einige Studien zu Italien im Spätmittelalter als auch eine exemplarische Nutzung von Webers Theorie des charismatischen Predigers für mittelalterliche Quellen.
Dass die Franziskaner eine spezifische Auslegung und Radikalisierung des christlichen Antijudaismus propagierten, wird in der Studie "Soziale Ausgrenzung im Medium der Predigt" überdeutlich. Die theologischen Herleitungen dieser Radikalisierung werden quellennah nachgezeichnet und auf ihre Begründungen geprüft, die letzten Endes ergeben, dass das Ende der Toleranz in der christlichen Lehre selbst angelegt war - eine folgenschwere Einschätzung, die Hohlstein leider nicht weiter diskutiert und kontextualisiert. Letzten Endes gelingt es damit auch Hohlstein nicht, aus der Menge des überlieferten Materials herauszuarbeiten, warum die Franziskaner gegen vielfältige Widerstände aus Kirche und weltlicher Herrschaft die völlige Separierung von Christen und Juden propagierten - und warum diese Widerstände nicht stark genug waren, um die umfassenden Vertreibungswellen des 15. Jahrhunderts nicht nur in Italien zu verhindern. Damit bleibt die Studie trotz ihrer umfassenden und verdienstvollen Aufarbeitung des Quellenmaterials hinter ihrem analytischen Anspruch zurück.
Cordelia Heß