Thomas Kaufmann: Luthers Juden, Stuttgart: Reclam 2014, 203 S., ISBN 978-3-15-010998-4, EUR 22,95
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Es ist höchst erfreulich, dass nunmehr auch führende Repräsentanten der protestantischen Reformationshistoriographie das spätestens seit 1982 (Walther Bienert) heiß diskutierte Thema "Luther und die Juden" ohne Scheuklappen angehen und frei von Apologetik behandeln. Bis jüngst herrschte ein Tenor vor, der wie auch immer letztlich Luther doch zu verteidigen und zu entschuldigen suchte, zuletzt indem man die Wirkungslosigkeit seiner antijüdischen Schriften behauptete (Wallmann).
Kaufmann hat mehrfach zum Thema publiziert, überwiegend aber für Fachleute. Das vorliegende Buch wendet sich an ein breiteres Publikum. Gut lesbar, unter Verzicht auf Anmerkungen und unter Einbeziehung zahlreicher Abbildungen behandelt es das Thema umfassend und wissenschaftlich solide auf der Basis von Quellen, die auch - für alle, die tiefer in die Materie eindringen wollen, unverzichtbar - in Kurzform nachgewiesen werden. Der Autor schildert die Situation der Juden zu Beginn der Frühen Neuzeit, er behandelt minutiös Luthers angenommene und nachgewiesene Begegnungen mit Juden und sämtliche Äußerungen und Schriften des Reformators, die für das Thema relevant sind. Zuletzt geht er auf die Rezeptionsgeschichte ein und zieht die Linien bis in das 20. Jahrhundert. Das Fazit steht unter der Überschrift: "Ein fehlbarer Mensch" (171). Hier geht Kaufmann auf Luthers Sterbestunden in Eisleben und den viel zitierten Zettel vom 16. Februar ein: "Wir sein pettler." Luther selbst, so Kaufmann, "hat seine eigene Fehlbarkeit bekannt" (178).
Originell und gut durchdacht wählte Kaufmann den Titel des Buches: "Luthers Juden". Er macht damit deutlich, dass es mehr um das Judenbild als um wirkliche Juden geht. Der Jude war für Luther - wie auch für viele nach ihm, bis heute - ein Konstrukt, das nur wenig Anhalt an der Realität hatte: "'Luthers Juden' sind ein Konglomerat diffuser Ängste, kalkulierter publizistischer Aktivitäten, spezifisch aktivierter biblischer Traditionsbestände, auch des Ressentiments, des kulturellen Herkommens, der Phantasie, ein Phantom." (16)
Kritisch zurückzufragen wäre allerdings, ob bei Kaufmann nicht zumindest an diesem Punkt ein raffiniert getarnter Rest der traditionellen Apologetik durchschlägt. Es waren ja reale Juden real betroffen von Luthers Zornausbrüchen und Luthers Ignoranz. Luthers Judenfeindschaft entfaltete sich nicht in einer Phantasiewelt, sondern in einer Welt, in der ständig bedrängt und gefährdet jüdische Familien und Gemeinden lebten und zu überleben suchten.
Das Buch ist reich an Fakten, spart aber mit Erklärungen und Deutungen. So positioniert sich Kaufmann in der viel diskutierten Frage, wie man den Luther von 1523 mit dem Luther von 1543 vereinbaren kann, wie man die Diskrepanz verstehen und begründen will, nicht wirklich. Fünf meines Erachtens wichtige Perspektiven fehlen bei Kaufmann völlig:
Erstens lässt er außer Acht, dass zu Luthers Begegnungen und Erfahrungen mit Juden auch die (leider häufig negativen) Erfahrungen mit den in Wittenberg an der Universität angestellten Hebräischlektoren gehören, die teilweise jüdischer Herkunft - "getaufte Juden" - waren.
Zweitens lässt er außer Acht, dass die Judensau, jenes schreckliche antijüdische Symbol der spätmittelalterlichen Vertreibungszeit, Luther durch wichtige Stationen seines Lebens begleitete: Magdeburg, Erfurt, Wittenberg. In allen drei Orten gab es die Judensau, und Luther kannte sie. Auch sie gehörte zu "Luthers Juden".
Drittens kann Luthers Judenfeindschaft nicht erörtert werden ohne die zumindest indirekt, in Luthers letzten Briefen deutlich werdende extreme, noch größere Judenfeindschaft seiner Ehefrau, Katharina von Boras, zu bedenken. War Luthers Judenfeindschaft auch von seiner Frau inspiriert, die ja dem niederen Adel und damit einem, da häufig bei Juden verschuldet, besonders judenfeindlichen Milieu entstammte?
Viertens, und das ist meines Erachtens der wichtigste Punkt, der bei Kaufmann ganz fehlt, kann man Luthers Judenfeindschaft nicht untersuchen ohne mitzubedenken, dass er Bettelmönch war. Dass Luther entscheidend und bleibend von seinen Mönchsjahren geprägt wurde, hat die jüngere Lutherforschung erkannt (Köpf, Moeller). Diese Prägung, das ist heute unstrittig, wirkte sich auch aus auf seine Theologie, ja auf sein Grundverständnis als Reformator. Das Bettelmönchtum war im späten Mittelalter aber auch die Speerspitze des Antijudaismus. Kaufmann kennt die entsprechende Literatur teilweise (Kirn; nicht: Vose, MacMichael, Cohen), rezipiert sie aber nicht wirklich.
Fünftens und letztens wäre zu fragen, warum Kaufmann wie nahezu alle, die das Thema behandeln, immer nur Luthers Wahrnehmung der Juden im Blick hat, nicht aber auch die umgekehrte Perspektive: Die Wahrnehmung Luthers und der Reformation durch Juden. Bekanntlich war die Kunde von den Ereignissen bis nach Jerusalem gedrungen, und viele Juden verbanden mit Luther anfangs große Hoffnungen. Eine ausgewogene Behandlung des Themas müsste konsequent auch die - von der Forschung noch nicht hinlänglich aufgearbeiteten - jüdischen Perspektiven einbeziehen. Die "im Ergebnis unerfreuliche" Begegnung Luthers mit drei Juden (38), die ihn Mitte der zwanziger Jahre in Wittenberg besuchten, "schmerzte" nicht nur Luther (38), sondern sie schmerzte und enttäuschte auch die jüdischen Besucher und viele, denen sie anschließend davon berichteten.
Mit "Luthers Juden" legt Kaufmann ein interessantes, lesenswertes Buch von hoher aktueller Relevanz vor. Besonders bemerkenswert ist, dass er mit Bezug auf Luther von einem "vormodernen Antisemitismus" spricht und damit zu Recht deutlich macht, dass der christliche Antijudaismus sehr wohl Verbindungslinien hat zum modernen Antisemitismus - was von vielen, gerade evangelischen Kirchenhistorikern immer bestritten worden war.
Martin H. Jung