Henrik Bispinck (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1977 (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 320 S., 5 Abb., 1 CD-Rom, ISBN 978-3-525-37501-3, EUR 29,99
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Die 1970er Jahre gelten in der Geschichte der DDR als das vergleichsweise "ruhige Jahrzehnt". Das Jahr 1977, um das es in diesem Band geht, erscheint in dieser Perspektive als ein "ganz normales Jahr" der DDR-Geschichte. Doch schon Mark Allinson hat darauf verwiesen, dass 1977 bereits alle zum Systemzusammenbruch führenden Problemlagen deutlich zum Vorschein gekommen seien. [1] Die von Henrik Bispinck bearbeiteten geheimen Berichte des MfS an die SED-Führung aus dem Jahre 1977 veranschaulichen in der Tat gravierende Spannungsfelder - wie die Reaktionen auf die nicht eingelösten materiellen Versprechungen der frühen Ära Honecker. Sie können als Vorboten der schleichenden Erosion der SED-Herrschaft gedeutet werden.
In ihrer knappen Einleitung verweist die Reihenherausgeberin Daniela Münkel zu Recht auf die Grenzen der MfS-Berichte: Bei deren Interpretation müssten der "spezifische Tunnelblick" sowie die "ideologisch bedingten Wahrnehmungsverzerrungen" des MfS berücksichtigt werden (7). Generell darf eben nicht übersehen werden, dass die Berichte kritische Haltungen zur SED-Politik in der Regel als Minderheitsmeinungen präsentierten und mit systemkonformen Argumentationsmustern kombinierten.
Die Edition besteht aus drei unterschiedlichen Berichtsserien, die alle für die politische Führung der DDR angefertigt wurden. Die 296 überlieferten Inlandsberichte ("Informationen") wurden vollständig in die Edition aufgenommen und bilden die größte Gruppe. Hinzu kommen 17 Berichte der "Ablage O" (Reaktionen der Bevölkerung zu politischen Ereignissen) und 19 Berichte der "Ablage K" (Verschiedenes). Nur ein Teil der edierten Dokumente ist abgedruckt. Auf der beiliegenden CD sind sämtliche Dokumente in einer übersichtlichen Datenbank erfasst, die eine Volltextrecherche ermöglicht. Der Band enthält darüber hinaus ein chronologisches Dokumentenverzeichnis.
Für die Interpretation der ZAIG-Berichte sind die Hinweise Henrik Bispincks auf den Verteilerkreis außerordentlich hilfreich. Denn sie verweisen auf einen wesentlichen Umstand, der die Relevanz dieser Berichte für die internen Lagebeurteilungen innerhalb der SED-Führung eindeutig schmälert: Über den Verteilerkreis und die Weitergabe der Informationen an die Parteiführung entschied ausschließlich Erich Mielke. In der Regel erhielten die Politbüromitglieder nur jene Informationen, die zu ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich zugeordnet werden konnten. So wurden beispielsweise bedenkliche Meldungen aus der Wirtschaft häufig nur Günter Mittag und Werner Krolikowski zugeleitet, nicht aber Erich Honecker. Zudem durchliefen die aus den Bezirksdienststellen des MfS und den Hauptabteilungen kommenden Informationen mehrere Filter, in denen allzu brisantes Material abgeschwächt oder gänzlich herausgenommen wurde. Auf diese Weise spiegelten die in der ZAIG verallgemeinerten Informationen für die SED-Führung nur Teile der ursprünglichen internen Lageeinschätzungen des MfS wider.
Gleichwohl lassen die für das Jahr 1977 zusammengestellten und kommentierten Informationsberichte des MfS Rückschlüsse auf den inneren Zustand der DDR zu. Über Monate hinweg beherrschten die Folgen der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann vom November des Vorjahres die ZAIG-Berichte. Das MfS berichtete über das Verhalten der Unterzeichner der Protestresolution, über die Reaktionen in der westdeutschen Presse sowie über das Schicksal der in die Bundesrepublik ausgereisten bzw. abgeschobenen Künstler und Intellektuellen. Insbesondere diese Berichte des MfS aus der Kulturszene, die in der Regel Honecker sowie den ZK-Sekretären Werner Lamberz und Kurt Hager vorgelegt wurden, spiegeln deutlich die Bemühungen des MfS wider, den Erwartungen der Politbüromitglieder zu entsprechen. So wurden ausführlich die sozialen und finanziellen Sorgen der in die Bundesrepublik ausgereisten Künstler geschildert, so dass sich der Eindruck verstärken musste, das Verhalten vieler kritischer Intellektueller sei ausschließlich von monetären Motiven geprägt. Damit reproduzierte das MfS ganz bewusst die ohnehin in der SED traditionell verankerte Intellektuellenfeindlichkeit.
Ohne hier auf alle Themenfelder der ZAIG-Berichte des Jahres 1977 eingehen zu können, ergeben sich daraus aufschlussreiche Hinweise auf die tendenziöse Informationspolitik des MfS. Dies betrifft insbesondere die Informationen zur instabilen Versorgungslage und die damit zusammenhängende Bevölkerungsstimmung. Eines der sensiblen Themen im Konsumbereich war die sogenannte Kaffeekrise. Das Verschwinden der vergleichsweise billigen Kaffeesorten aus dem Angebot und die Propaganda für Mischkaffee aus Malz- und Bohnenkaffee hatten im September 1977 zu großer Unruhe unter der Bevölkerung geführt. Das MfS berichtete intern ausführlich über den in der Bevölkerung entstandenen Unmut. Wie Bispinck betont, wurde kein einziger Stimmungsbericht an die Politbüromitglieder weitergeleitet. Da jedoch aus den SED-Bezirksorganisationen besorgniserregende Meldungen über den Unmut in der Bevölkerung Honecker erreichten, ließ der SED-Chef die Produktion des Kaffee-Mix letztlich einstellen. In der "Kaffeekrise" drückte sich die allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung über die miserable Versorgungslage aus. Die nicht weitergeleiteten Stimmungsberichte der ZAIG belegen, dass Mielke selbst dem SED-Generalsekretär Kenntnisse über die reale Versorgungslage und die Bevölkerungsstimmung nicht zumuten wollte.
Die ZAIG-Berichte hätten für die SED-Führung eine wichtige Quelle sein können, um sich ein realistisches Bild von der innenpolitischen Lage in der DDR zu machen. Doch gerade bei Themen, die politische Stimmungen und somit die Legitimation der SED-Herrschaft berührten, wurden Halbwahrheiten übermittelt und tendenziös berichtet. Die wirklich brisanten Lageeinschätzungen und Analysen blieben unter Verschluss und der internen Auswertung des MfS vorbehalten. Zudem kam es vor, dass Mielke die Weiterleitung von einzelnen Informationen der ZAIG, die eigentlich für die zuständigen Sekretariats- bzw. Politbüromitglieder vorbereitet worden waren, eigenmächtig verhinderte. Über die Motive, die Mielke zu einer solchen Vorsicht veranlasst haben könnten, kann nur spekuliert werden. Aber selbst die an Honecker und ausgewählte Politbüromitglieder übermittelten kritischen Lageeinschätzungen beförderten innerhalb der SED-Führung kein Umdenken und bewirkten somit politisch kaum etwas, weil diese unbequemen Wahrheiten lediglich zur Kenntnis nahm und nicht einmal als Herrschaftswissen zu nutzen verstand.
Gleichwohl geben selbst die "gefilterten" ZAIG-Berichte aufschlussreiche Hinweise auf das Stimmungsbild in der DDR und stellen somit eine wichtige zeithistorische Quelle dar. Stets in Rechnung zu stellen ist dabei der spezifische Blickwinkel des MfS, der die dokumentierten Vorgänge, die sich insbesondere auf die "feindlich-negative Haltung" der Schriftsteller und Künstler bezog, deutlich verzerrt und tendenziös darstellte. Für eine umfassende Rekonstruktion von Bevölkerungsstimmungen und vorherrschenden Wertorientierungen liefern die in diesem Band vorgestellten Informationsberichte somit nur erste Orientierungspunkte.
Anmerkung:
[1] Mark Allinson: 1977 - the GDR's most normal year?, in: Mary Fulbrook (ed.): Power and Society in the GDR, 1961-1979: The 'Normalisation' of Rule?, Oxford 2009, 253-277.
Andreas Malycha