Etienne François / Kornelia Kończal / Robert Traba u.a. (Hgg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich (= Moderne europäische Geschichte; Bd. 3), Göttingen: Wallstein 2013, 560 S., ISBN 978-3-8353-1068-1, EUR 42,00
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Das Epochenjahr 1989 hat Europas Erinnerungslandschaft umgepflügt. Viele Erinnerungen, die bis dato marginalisiert waren, kamen nun eruptiv zum Vorschein und stellten die hegemonialen Geschichtserzählungen infrage. Der Beitritt der mittelosteuropäischen Länder zur Europäischen Union 2004 hat diesen Prozess nochmals dynamisiert, zumal parallel dazu seit den 2000er Jahren auch die verdrängte Kolonialvergangenheit der europäischen Staaten neu verhandelt wird. Diese Entwicklungen gehen einher mit einer seit Ende der 1980er Jahre anhaltenden Forschungskonjunktur bezüglich Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Angefangen mit Beiträgen zu einzelnen europäischen Ländern, sind in den letzten Jahren verstärkt transnationale Vergleichsstudien erschienen. [1] Der Sammelband, herausgegeben von Etienne François, Kornelia Kończal, Robert Traba und Stefan Troebst, fügt sich in diese Forschungslandschaft ein. Er stellt eine Kombination von Tagungsbeiträgen eines Symposiums im Deutschen Historischen Museum 2007 zu den "Strategien der Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland und Frankreich und Polen im internationalen Vergleich" sowie darüber hinaus akquirierten Studien dar. Letztere bieten eine sinnvolle Ergänzung, hätten aber bei der Wahl des Untertitels berücksichtigt werden sollen. Der Sammelband ist in vier Teile mit je eigenem Schwerpunkt gegliedert: Im ersten Teil werden die Akteure der Geschichtspolitik in den Blick genommen; der zweite Teil widmet sich der seit der EU-Osterweiterung zunehmenden Opferkonkurrenz; Teil 3 setzt sich mit einigen ausgesuchten nationalen Meistererzählungen auseinander, und Teil 4 schließlich fokussiert die Inszenierungen von Geschichte in Museen und Ausstellungen.
Zu einem Akteur der Geschichtspolitik reüssierte in den letzten Jahren neben den nationalen Zivilgesellschaften vor allem die Europäische Union. Stefan Troebst zeigt auf, wie dieser Prozess durch die EU-Osterweiterung insofern dynamisiert wurde, als der Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten 2004 sukzessive zu einer erinnerungskulturellen Hinwendung zu den stalinistischen Gewaltverbrechen führte. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Entschließung des Europäischen Parlaments von 2009 "zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus" (100). Darin wurden die NS-Verbrechen mit den stalinistischen Gewalttaten weitgehend gleichgesetzt und die Entschließung zusätzlich mit der Forderung verbunden, zukünftig den 23. August - den Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes - als europaweiten Gedenktag einzuführen. Wenngleich diese Proklamation folgenlos blieb, scheint der Preis eines europäischen Gemeinschaftsversprechens hoch zu sein, denn die Integration möglichst vieler Opfer in ein übergroßes unspezifisches Kollektiv wird weder den Opfern der nationalsozialistischen noch denen der stalinistischen Diktatur gerecht.
Wie sehr die europäische Erinnerungslandschaft heute von einer Konkurrenz der Opfer gekennzeichnet ist, zeichnet Wolfram von Scheliha am Beispiel des polnisch-russischen Geschichtsdiskurses nach 1989 nach. Während für Polen nach 1989 die Erinnerungsorte "Hitler-Stalin-Pakt", "17. September 1939" (Angriff der Sowjetunion auf Polen) sowie "Katyn" (Ermordung polnischer Offiziere und Zivilisten in Katyn und anderen Orten) zum "Gründungsmythos der dritten Republik" (226) zusammenschmolzen, knüpft Russland seit der ersten Präsidentschaft Wladimir Putins sukzessive an die sowjetische Siegessymbolik und den Mythos des "Großen Vaterländischen Krieges" an. Diese erinnerungskulturellen Divergenzen gewannen vor allem ab 2005 an Schärfe, als der polnische Sejm zum 65. Jahrestag des Massakers von Katyn das NS-Regime und die Sowjetunion als totalitäre Staaten auf eine Stufe stellte, worauf Russland mit einer an die Stalin-Zeit erinnernden Geschichtsfälschungsrhetorik reagierte, die in einer parlamentarischen Initiative der Präsidenten-Partei Einiges Russland gipfelte, fortan die mit dem Hinweis auf Katyn und andere Verbrechen erfolgten Relativierungsversuche der positiven Rolle der UdSSR bei der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus unter Strafe stellen zu wollen. Erst die aufrichtige Bestürzung Russlands über die Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April 2010, bei der neben dem polnischen Präsidenten Lech Kaczyński 94 weitere hochrangige Vertreter Polens ums Leben kamen, brachte die beiden Länder geschichtspolitisch wieder näher zusammen. Ende 2010 beschloss die russische Duma eine Erklärung zu Katyn, in der sie sich zu den grausamen Tatsachen bekannte, eine explizite Entschuldigung jedoch vermied.
Inwiefern die Kolonialgeschichte in die Arena der Erinnerungen zurückkehrt, zeigen Benjamin Stora und Matthias Middell jeweils in ihren Beiträgen über Frankreich und den Algerienkrieg auf. Symptomatisch für das erfolgreiche Verdrängen dieses brutalen Kolonialkonfliktes ist der Umstand, dass von "Krieg" offiziell erst seit 1999 die Rede ist. Seitdem tobt in Frankreich eine geschichtspolitische Auseinandersetzung, die 2005 mit einem von der französischen Nationalversammlung verabschiedeten Gesetz ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Initiiert von der konservativen UMP wurde darin die "positive Rolle der französischen Kolonialisierung" (185) hervorgehoben, was in der Öffentlichkeit zu einem Sturm der Entrüstung führte. Schon bald ruderte daher der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy zurück und setzte den umstrittenen vierten Paragraphen des Gesetzes, der die obige Formulierung umfasst, außer Kraft. Seine deutlichen Worte zum kolonialen Erbe Frankreichs 2007 mündeten drei Jahre später in die Gründung einer Stiftung zum Gedenken an den Algerienkrieg. Allerdings distanzierten sich schon bald viele Historiker von diesem Projekt, da es entgegen der Ankündigung stark von Tendenzen zur Darstellung Frankreichs als Sieger gekennzeichnet war.
Das Ausstellen von Geschichte ist Hauptaufgabe einer aktiven Geschichtspolitik. Daher verwundert es nicht, dass es in den letzten Jahren eine Vielzahl von meistens unvollendeten Initiativen zu einem Europa-Museum gab. Hervorzuheben ist hierbei das 2007 vom damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, initiierte Projekt "Haus der Europäischen Geschichte", das 2014 seine Türen öffnet. Ob es sich dabei um nicht mehr als um die "Aufzählung historischer Partikel" (535) handelt, wie Georg Kreis es ausdrückt, muss in der Tat befürchtet werden, da das Konzeptpapier keine zukunftsweisenden Leitfragen enthält, welche die transnationalen Bezüge aufgreifen und reflektieren.
Insgesamt enthält der Sammelband eine Vielzahl von interessanten Beiträgen, die als Ausgangspunkt weiterer Forschung dienen können. Indem das Gewicht mononationaler Studien zugunsten themenspezifischer oder länderübergreifender Beiträge reduziert ist, werden zudem neue Perspektiven und transnationale Referenzen eröffnet, die Europa als fragmentierte Erinnerungsgemeinschaft erst verstehbar machen.
Anmerkung:
[1] Birgit Hofmann / Katja Wezel / Katrin Hammerstein u.a. (Hgg.): Diktaturüberwindung in Europa. Neue nationale und transnationale Perspektiven, Heidelberg 2010; Stefan Troebst (Hg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010; Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen, 2 Bde., Mainz 2004.
Cornelius Lehnguth