Genia Findeisen / Kristina Großmann / Nicole Weydmann (Hgg.): Herausforderungen für Indonesiens Demokratie. Bilanz und Perspektiven, Berlin: regiospectra 2010, 236 S., ISBN 978-3-940132-13-0, EUR 21,90
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Indonesien ist seit 1999, als nach dem Suharto-Sturz die ersten freien Wahlen nach über fünf Jahrzehnten stattfinden konnten, in formaler Hinsicht die drittgrößte Demokratie der Welt. Nun ist in deutscher Sprache ein Sammelband erschienen, der sich mit den Facetten des Demokratisierungsprozesses in dem Land beschäftigt. Herausgegeben wurde er von der Südostasien-Informationsstelle, einer Organisation im Essener Asienhaus, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, "ein differenziertes Bild der Länder und Kulturen Asiens zu vermitteln und den Prozess des interkulturellen Dialogs im Interesse von Frieden und sozialer Gerechtigkeit auf allen Ebenen voranzutreiben." ( http://www.asienhaus.de/index.php )
Der Band setzt sich aus sechs Teilen zusammen, die sich jeweils mit der Reform der politischen Institutionen, mit dem Militär und Menschenrechten, mit der Rechts- und Justizreform, dem Verhältnis von Islam und Demokratie, der wirtschaftlichen Entwicklung sowie mit NGOs, Sozialem und Umwelt beschäftigen. Jeder Abschnitt umfasst zwei bis fünf Artikel, so dass sich in dem Sammelband mit seinen 235 Seiten nicht weniger als 21 Beiträge finden. Die meisten Texte haben aufgrund ihrer Kürze eher Überblickscharakter. Einige Artikel beleuchten Fallbeispiele des jeweiligen Themenfeldes, wie die Studie des indonesischen NGO-Aktivisten Raflis zur Vergabepraxis von Flächenkonzessionen in der Provinz Riau im Kapitel über NGO, Soziales, Umwelt.
Die Verfasser sind meist deutsche Nachwuchswissenschaftler aus sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Allerdings kommen in dem Band auch indonesische Experten zu Wort, so etwa der Politikwissenschaftler Kacung Marjian von der Universitas Erlangga in Surabaya, der in seinem Beitrag über die Pilkada-Direktwahlen auf die Probleme der Demokratisierung auf lokaler Ebene eingeht.
Dem im Editorial formulierten Anspruch, "sowohl allgemein Südostasien-Interessierte als auch akademisches Publikum an[zu]sprechen" (9) wird der Band mit seinen informativen und leicht verständlichen Beiträgen sicherlich gerecht, wenngleich einige Artikel für eine weitergehende akademische Beschäftigung mit dem Thema mit mehr Quellenangaben hätten ausgestattet werden können.
Im erster Teil des Bandes legt Kristina Großmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen an der Universität Frankfurt/Main, eine sehr gelungene konzeptionelle Annäherung an den thematischen Rahmens des Bandes vor. Die Autorin betont, dass eine angemessene Betrachtung des Demokratisierungsprozesses über eine isolierte Analyse von Wahlen hinausgehen und weitere Faktoren wie zum Beispiel sozio-ökonomische Situationen, Rechtsstaatlichkeit oder die Rolle des Militärs, das bis 1998 eine der tragenden Säulen der autoritären Suharto-Herrschaft war, in den Blick nehmen muss. Großmann argumentiert, dass es sich bei der Transformation zu einer demokratischen Gesellschaft nicht um eine lineare Entwicklung von einem autoritären zu einem liberaldemokratischen System handelt, sondern um jeweils spezifische, durch historische, ökonomische und kulturelle Gegebenheiten geprägte, prinzipiell offene Prozesse. Dementsprechend möchte der Band die Probleme aber auch die Fortschritte Indonesiens auf seinem Weg zu mehr Demokratie dokumentieren.
Schon im darauffolgenden Beitrag, in dem Mathias Diederich über ein für jede Demokratie zentrales Element, nämlich das Parteiensystem, schreibt, wird deutlich, wie sich in diesem einige Spezifika der indonesischen Gesellschaft ausdrücken. Interessant ist hier besonders die Darstellung der islamischen Parteien, die sich seit 1998 frei entfalten konnten und heute einen wichtigen Einfluss auf die indonesische Politik ausüben. Im zweiten Artikel dieses Kapitels über die Reform der politischen Institutionen behandelt Genia Findeisen das Problem der Geschlechterrepräsentation in den neuen parlamentarischen Gremien in Indonesien. Findeisen scheint hier eine differenzfeministische Position einzunehmen und davon auszugehen, dass es allgemeine Fraueninteressen in der Politik gibt, die nur von Frauen repräsentiert werden könnten. Dem stehe der geringe Frauenanteil im Wege. Sie schreibt hierzu, dass "Indonesien noch weit von einer angemessenen Vertretung von 51 Prozent der Bevölkerung entfernt" (34) ist. Andererseits weißt sie selber darauf hin, dass während der Neuen Ordnung Suhartos der relativ hohe Frauenanteil nur ein Ausdruck des vorherrschenden Nepotismus war und sich heute vermehrt Frauen aus wohlhabenden Familien im Parlament finden. Hier liegt die Vermutung nahe, dass diese Frauen nicht unbedingt die Interessen aller Frauen repräsentieren und dass Frauen aus verschiedenen sozialen Milieus verschiedene Anliegen haben. Es müsste also noch stärker danach gefragt werden, welchen Frauen nun die Möglichkeit gegeben wird, sich in politischen Ämtern zu betätigen, und welchen nicht. Dieser Umstand fällt deswegen ins Auge, weil im nächsten Beitrag Kacung Marjian auf das Problem der "money politics" eingeht. Er analysiert die Bedeutung des ökonomischen, politischen und sozialen Kapitals bei Regionalwahlen, ohne jedoch überhaupt auf Genderaspekte einzugehen. Eine Verknüpfung der beiden Artikel und damit eine inhaltliche Verbindung gesellschaftlicher, ökonomischer und genderbezogener Kategorien wäre hier sicher sinnvoll gewesen. Vermutlich wäre überhaupt der gesamte Band noch besser geworden, wenn die Autorinnen und Autoren der jeweiligen Bereiche enger zusammengearbeitet und so ihre Ansätze, Kritiken und Analysen jeweils aufeinander bezogen hätten.
Erfreulich ist allerdings der Umstand, dass viele Artikel eine historische Tiefendimension erkennen lassen, die zum Verstehen der aktuellen Probleme unerlässlich ist. Exemplarisch sei hier auf den Beitrag "Mythen Macht und Massenmord" von Eva Steifeneder und Fabian Junge verwiesen. Der Text bietet einen ausgezeichneten Überblick über den seit 1966 in Indonesien zur Staatsräson erhobenen Antikommunismus und berücksichtigt auch neuere Forschungsergebnisse über das "Ereignis 65/66", in dessen Verlauf bis zu einer Million Menschen ermordet wurden. Gerade hinsichtlich der spezifischen historischen und sozioökonomischen Bedingungen, in denen der indonesische Demokratisierungsprozess stattfindet, wird der Aufsatz den von Kristina Großmann formulierten Anspruch gerecht, "zusätzlich zur qualitativen Analyse der Erfüllung von Demokratiekriterien auch die Betrachtung von nationalen und lokalen Rahmenbedingungen" (14) in die Untersuchung mit einzubeziehen.
So ist alles in allem ein kritischer Sammelband entstanden, der fachkundig eine Vielzahl von Problemen benennt, aber auch positive Entwicklungen nicht unerwähnt lässt. So konstatieren Patrick Ziegenhain und Alexander Kähny in ihrem Beitrag über die globale Finanzkrise als Herausforderung für das indonesische Wirtschaftssystem, dass "sich die im Vergleich zu vielen westlichen Staaten zurückhaltende Liberalisierung und strikte Regulierung des Finanzsystems als äußerst positiv [für das indonesische Wirtschaftssystem] erwiesen hat." (156) Zu einem vorsichtig positiven Fazit kommt auch Sofie Arjon Schütte in ihrem Artikel, der eines der größten Probleme des Landes, die allerorts verbreitete Korruption, zum Gegenstand hat: Ihr zufolge "scheinen öffentliches Bewusstsein und Unterstützung für Korruptionsbekämpfungsmaßnahmen zwölf Jahre nach dem Ende der "Neuen Ordnung" [der autoritären Regierungszeit Suhartos, Anm. T. Duile] stärker denn je."(102)
So bleibt einzig die mangelnde Verknüpfung der vielen einzelnen, kurzen Beiträge als kleine Schwäche des Bandes anzumerken. Dieser Umstand soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dem Werk eine sowohl für den interessierten Laien als auch für Sozialwissenschaftler, die sich mit Indonesien beschäftigen, äußerst lesenswerte Zusammenstellung erschienen ist, die einen fundierten Blick in das indonesische Demokratisierungsprojekt bietet.
Timo Duile