Ian P. Wei: Intellectual Culture in Medieval Paris. Theologians and the University c. 1100-1330, Cambridge: Cambridge University Press 2012, XIII + 446 S., ISBN 978-1-107-00969-1, GBP 65,00
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Die Strahlkraft der Pariser theologischen Fakultät war gewaltig: seit Gründung der Universität Paris um 1200 zog sie Scharen von Studenten an, die ihre Hoffnung nicht allein auf Erkenntnisgewinn, sondern auch auf eine kirchliche Karriere setzten. Zu Recht, wird man wohl sagen dürfen, rekrutierte sich das kuriale und episkopale Spitzenpersonal im 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts doch zu einem großen Teil aus ehemaligen Absolventen der Pariser alma mater. Die in Paris lehrenden Theologiemagister wussten um ihre Bedeutung und ihren Einfluss. Das, was man an der Seine verhandelte, wurde nicht selten zur offiziellen Lehrmeinung erhoben - der Anspruch, theologische Grundsatzentscheidungen an vorderster Stelle beeinflussen zu können, führte zu einem klar ausgeprägten Standes- und Selbstbewusstsein. Man wusste, was man (bewirken) konnte.
Ian P. Wei, Senior Lecturer in History an der Universität Bristol, ausgewiesener Kenner der mittelalterlichen Pariser Universitätsgeschichte, tritt nun mit dem Ziel an, eine Einführung in deren geistige Kultur zu geben und legt dabei den Schwerpunkt auf die Theologie. Ein ausgesprochen begrüßenswertes Unterfangen, sind doch gut lesbare, sich nicht in Quisquilien verlierende Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Universität Paris und besonders der innerhalb der theologischen Fakultät verhandelten Inhalte rar gesät. Weis Werk geht auf eine Vielzahl von in Bristol gehaltenen Seminaren und Vorlesungen zurück - dies ist auf jeder Seite spürbar. Wei hat nicht nur die Gabe, sondern auch den Mut zur Reduktion. Komplexe Hochtheologie wird so unmittelbar verständlich (und nicht verfälscht). Der Gegensatz von Geistes- und Institutionengeschichte wird dabei ebenso aufgehoben wie derjenige von abstrakter Philosophie/Theologie und Ethik/Moraltheologie.
Sieben Kapitel erschließen das Themenspektrum sowohl chronologisch als auch thematisch. Die ersten beiden Kapitel zeichnen die Entstehung der Universität Paris aus den Dom- und Klosterschulen des 12. Jahrhunderts nach (I. The twelfth-century schools of northern France, 8-51; II. The twelfth-century monasteries and Hugh of Saint Victor, 52-86). Ausgesprochen lesenswert gerät hier der Abschnitt über die Bedeutung von Mythen und Poesie bei der Beschreibung der natürlichen (Um-)Welt, die in breit rezipierten Werken wie "De planctu naturae" des Alanus ab Insulis mündeten. In diesen Werken wird bereits das vorweggenommen, was rund 150 Jahre später erneut eine große (und dann stark universitätskritische) Rolle spielen sollte: die Erkenntnis, dass Sprache nicht dazu taugt, letzte Dinge zu beschreiben. Und nicht ganz überraschend stand man an der Theologischen Fakultät dem Ansinnen stets ausgesprochen kritisch gegenüber, mittels Sprache eine Sprachlosigkeit zu erzeugen, die für Gott öffnet. Sprachlich verfasste Dialektik bzw. Logik lagen schließlich jedem theologischen Suchen zugrunde - und die Ergebnisse dieser Suche präsentierten sich in hermetischer Sprache, die den arkanen Inhalten nicht nur angemessen war, sondern eine Art Herrschaftswissen begründete.
Mit der Universität Paris im 13. Jahrhundert setzt sich das dritte Kapitel auseinander (87-169). Behandelt werden Aspekte von Institutionalisierung und kultureller Identität. Sie werden anhand herausragender Lehrpersönlichkeiten wie Bonaventura und Thomas von Aquin näher ausgeführt. Als sehr gelungen darf in diesem Zusammenhang die Interpretation der Bulle "Parens scientiarum" Gregors IX. (1231) mit ihrer Definition der universitären raison d'être gelten. Durch die Predigt zur Predigt - dies ist wohl als Quintessenz der Bulle festzuhalten und Wei tut gut daran, die immense Bedeutung des Predigtaspekts auch in der Folge immer wieder zu unterstreichen. Eine Scharnierfunktion kommt dem vierten Kapitel zu (Communication and Control, 170-246), in dem über die Verantwortung der Pariser Magister gegenüber dem Rest der Gesellschaft gehandelt wird. Die Aussagekraft der noch immer beklagenswert schlecht erschlossenen Quodlibeta-Literatur mit wertvollen Aussagen zum Selbstverständnis der Universitätstheologen wird hier überzeugend unter Beweis gestellt. Weis weitere Ausführungen zu so zentralen und umstrittenen Themen wie dem Fegefeuer oder der Macht des Teufels bewegen sich nicht nur auf der Höhe der aktuellen Forschung, sondern werden durch eine Vielzahl von (durchaus miteinander konkurrierenden und zuweilen zueinander in Widerspruch stehenden) Quellenbelegen näher erläutert.
Klar wird auch in den beiden folgenden, eher thematisch zugeschnittenen Kapiteln (V. Sex and marriage, 247-292; VI. Money, 293-355), dass die Universität weit davon entfernt war, mit einem Mund zu sprechen. Im Gegenteil: Die Vertreter der Theologischen Fakultät traten insbesondere in Fragen der Sexual- und Ehemoral in offenen Widerspruch zueinander - eine Schwachstelle, die von denjenigen ausgenutzt wurde, die das bestehende System kritisierten. Sie stehen denn auch folgerichtig im Zentrum des abschließenden siebten Kapitels (Anti-intellectuals in the late thirteenth and early fourteenth centuries: A new context, 356-414). "Anti-Intellektuelle" versagten sich dabei nicht das Denken, sie dachten nur anders - und nahmen andere Gewichtungen vor. Insbesondere der von den Theologen verwendete Ratio-Begriff stand im Zentrum der von Autoren wie Jean de Meun, Margarete Porete oder Meister Eckhart geführten literarischen Attacken. In der Fortsetzung des Rosenromans ebenso wie im "Miroir des simples âmes" oder einigen Predigten Eckharts wird deutlich, dass der Ratio in der Hierarchie des Wissens nicht mehr die absolute Spitzenposition zukam. Wenn wahres Verstehen jenseits von Worten lag, wenn - wie von Margarete Porete ausdrücklich betont - Schriften ein Wissen transportierten, das dasjenige der Theologiemagister bei weitem überstieg und deshalb intellektuell für diese nicht zugänglich war, wenn schließlich Messen, Predigten, Beichten nicht weiter nötig waren, um unmittelbar mit Gott in Kontakt zu treten, dann verlor die Universität ihr auf Ratio gründendes Monopol der Wissens- und Heilsvermittlung. Diese Gefahr wurde erkannt: die Kontroverse um den Rosenroman zeigt dies ebenso deutlich wie die Disziplinierung Eckharts oder das grausame Ende Margarets auf dem Scheiterhaufen. Das universitäre Idealgebäude geriet Ende des 13. Jahrhunderts mit dem Aufkommen von Männern und Frauen ins Wanken, die - egal ob innerhalb oder außerhalb der Institution Universität - intellektuelle Praktiken offen kritisierten und damit am Bildungs- und Vermittlungsmonopol rüttelten. Lohnend wäre es ohne Zweifel, diesen Ansatz weiter ins 14. und 15. Jahrhundert hinein zu verfolgen.
Die Bibliographie, immerhin 22 eng bedruckte Seiten (415-436), dürfte anders als der Darstellungsteil jeden enttäuschen, der sich profunde Angaben zum aktuellen Forschungsstand erhofft. Es finden sich zwar nicht nur englische Titel, doch nehmen sich die (immerhin!) 45 französischen Monographien bzw. Aufsätze insgesamt doch recht bescheiden aus - von den fünf deutschen und zwei italienischen Titeln ganz zu schweigen. Dass die Arbeiten von Natalie Gorochov nicht auftauchen, erstaunt dabei ebenso wie das bibliographische Schattendasein, zu dem Jacques Verger verurteilt ist. Dabei wird noch nicht einmal erklärt, weshalb man auf Literatur fremder Zunge verzichtet. Sicher: Wei will seine Arbeit als Handreichung für Studenten verstanden wissen - wohlgemerkt: eine Handreichung für englischsprachige Studenten. Hier liegt denn auch die eigentliche Problematik. Zwar ist die gesamte Untersuchung erfreulicherweise mit vielerlei Quellenzitaten durchsetzt, die anschaulich das schildern, worüber theoretisch gehandelt wird. Die Auswahl dieser Quellenzitate ist jedoch nicht allein sachlich-thematisch begründet, sondern allzu oft der Tatsache geschuldet, dass lediglich englische Übersetzungen besonders prominenter Autoren vorliegen. Auch so wird ein Kanon geschaffen bzw. zementiert. Sollte das vorliegende Werk widerspiegeln, was ein im angloamerikanischen Wissenschaftssystem verankerter Hochschullehrer von seinen Studenten erwarten kann, dann sind gewisse Befürchtungen berechtigt. Latein spielt offensichtlich keine Rolle mehr - mit allen Konsequenzen, die das für den an den Universitäten gelehrten Kanon hat. Forschungen außerhalb der anglophonen Welt werden konsequent ausgeblendet und sinken so auf das Niveau einer nicht weiter beachtenswerten quantité négligeable herab. Kann das alles sein? Hoffentlich nicht. Denn Universitätsgeschichte ist eine noch längst nicht "ausgeforschte" Disziplin. Viele bisher unbekannte Texte gilt es noch zu erschließen, viele Fragen neu zu stellen - doch dafür bedarf es solider Sprachkenntnisse, nicht monolingualer Niederungen.
Ralf Lützelschwab