Hanns-Fred Rathenow / Birgit Wenzel / Norbert H. Weber (Hgg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung (= Politik und Bildung; Bd. 66), Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2013, 508 S., ISBN 978-3-89974776-8 , EUR 49,80
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Indem mit dem Tod der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen die mündlich weitergegebene Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust allmählich verblasst, scheidet sie aus dem kommunikativen Gedächtnis aus - dieses vielbeschworene Bild wird in jüngster Zeit gerne als Ausgangspunkt genommen, sich die Frage nach einem angemessenen Umgang mit der NS-Vergangenheit noch einmal neu zu stellen. Was kann der Einzelne, was können Gemeinschaften aus der nationalsozialistischen Herrschaft und ihren Verbrechen lernen? Auch das "Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust" fügt sich in diesen Reigen jüngster Publikationen ein; es steht für die Überzeugung, dass die Geschehnisse trotz des zunehmenden zeitlichen Abstands Bestandteile des Lernens in und außerhalb der Schule bleiben müssen. Allerdings zwingt das Fortschreiten der Zeit zu regelmäßiger pädagogisch-didaktischer Aktualisierung. Folglich geben die Herausgeberin und die Herausgeber gleich zu Beginn als Ziel des Bandes an, "die gegenwärtige Bedeutung dieses Lernfeldes mit seinen vielen Facetten für Schule, außerschulisches Lernen und die Lehrerbildung herauszustellen und Impulse für den theoretischen Diskurs wie für die praktische Arbeit zu geben" (10). Leitend war dabei der Wunsch, der dem Feld eigenen Vielfalt durch eine Pluralität der Sichtweisen wie durch eine individuelle Ausgestaltung der einzelnen Beiträge Rechnung zu tragen. Dementsprechend bunt ist der Kreis der der Autorinnen und Autoren aus Forschung, Lehre und Praxis: Neben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Museen, Gedenkstätten und anderen Bildungspraktikerinnen und Bildunsgpraktikern zählen zu ihnen vornehmlich Lehrende an Schulen und Universitäten.
Die konzeptionell mithin gewollte, aber eine Gesamtwürdigung erschwerende Vielfalt ist das kennzeichnende Charakteristikum des Buchs. Die Spannweite der dreißig Beiträge reicht von übergreifenden erinnerungskulturellen Überlegungen (z.B. Aleida Assmann, 67-78; Günter Morsch, 95-107) und Beiträgen, die in bedeutende Problemkomplexe einführen (so etwa Isabel Enzenbach zum frühen historischen Lernen zum Nationalsozialismus, 133-147) über Forschungsberichte (z.B. die Ergebnisse einer Dissertation, in deren Rahmen Unterrichtsgespräche zu einem zeitgeschichtlichen Jugendroman analysiert wurden, Jeanette Hoffmann, 231-246) bis hin zu einem individuellen Rückblick auf den Stellenwert von Nationalsozialismus und Holocaust im eigenen Studium (Bodo Paul Hoffmann, 325-330). Eine ganze Reihe von Artikeln rückt Einzelmaßnahmen im Sinne von Beispielen einer Best Practice in den Mittelpunkt: Das gilt etwa für Aufsätze zu Schulprojekten wie die von Sibylle Hesse (249-267), Detmar Grammel (269-281) und Jens Augner (383-397) oder aber auch für die Beiträge von Dagmar Grenz (331-348) und Irina Nowak (349-364), die schwerpunkthaft universitäre Seminarkonzepte vorstellen.
Die qualitativ überwiegend ansprechenden Beiträge sind insgesamt sechs Abschnitten zugeordnet: Auf die "Grundlagen" folgen die Komplexe "Praxis Schule: Unterrichtliches Lernen", "Praxis Schule: Projektorientiertes Lernen", "Praxis Lehrerbildung" und "Gedenkstätten und außerschulisches Lernen", bevor abschließend einige "Internationale Ansätze" vorgestellt werden. Jedoch fungiert diese Gliederung nur als grobe Klammer, und manch ein Text hätte auch an anderer Stelle seinen Platz finden können. So hätte sich beispielsweise Jens Augners Vorstellung der regelmäßig von Schülerinnen und Schüler der Berliner Humboldt-Oberschule eigenverantwortlich organisierten Gedenkstättenfahrten (383-397) ebenso gut dem "projektorientierten Lernen" statt dem Gedenkstätten-Abschnitt zuweisen lassen.
Dabei steht das Buch in der Nachfolge eines strukturell ähnlich angelegten, wenngleich thematisch noch etwas engeren Vorgängers, der ebenfalls von Hanns-Fred Rathenow und Norbert H. Weber herausgegeben wurde. [1] Diese schlägt sich weniger in der Übernahme einzelner Beiträge nieder - dies kommt nur einmal vor (Dagmar Genz, 331-348) - als im Zuschnitt der Themen und in der Gesamtgliederung. Mit der älteren Publikation teilt das neue "Handbuch" zudem eine auffällige Berlin-Lastigkeit der Beitragenden (und zwar insbesondere auch jenen aus der Schulpraxis); hierdurch ist die avisierte Offenheit der Perspektiven dann doch insoweit wieder eingeschränkt, als die Hauptstadt und ihr direktes Umland im Republikvergleich einen Diskursraum mit einzigartigen Möglichkeiten bieten und mit einer sonst kaum anzutreffenden Institutionendichte aufwarten können.
Mit der Entscheidung für eine additive Vorstellung vielfältiger Impulse geht ein weitgehender Verzicht auf eine systematische Aufgliederung des Feldes, auf eine übergreifende Einordnung der Einzelbeiträge in den Forschungskontext sowie auf vergleichende Betrachtungen einher. Dies teilt der Band zwar mit anderen Veröffentlichungen der letzten Jahre zum pädagogischen Umgang mit Nationalsozialismus und Schoah [2], die - aus Marketinggründen gewählte? - Bezeichnung "Handbuch" ließe aber anderes erwarten und führt ein Stück weit in die Irre. Nur manche Beiträge wie der genannte von Isabel Enzenbach oder Bettina Alavis Ausführungen zu den besonderen Herausforderungen, die sich mit Blick auf die kulturelle Diversifizierung der Gesellschaft stellen (79-94), leisten für ihre Teilbereiche einen guten Überblick. Insgesamt lässt das Buch aber zu viel Wichtiges unbeleuchtet, als dass es eine geordnete Annäherung an die Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus ermöglichte. Nur einige Aspekte seien genannt: Zu den "Grundlagen" müsste heute mindestens eine ausführliche Würdigung all jener empirischen Studien gehören, die große Zweifel an der Wirksamkeit schulischen Lehrens gerade zum Inhaltsfeld Nationalsozialismus und Schoah äußern - genannt seien allein die Studien der Frankfurter Forschergruppe um Wolfgang Meseth, Matthias Proske und Frank-Olaf Radtke oder die (von Bettina Alavi immerhin kurz vorgestellte, 83) Dissertation von Meik Zülsdorf-Kersting. [3] Hier wären auch die wichtigen, national wie international geführten Diskussionen um die Universalisierbarkeit des Holocaust und die Vor- und Nachteile einer Überführung in eine allgemeine Menschenrechtserziehung ausführlicher zu beleuchten. Eingeschränkt ist insbesondere auch der Horizont im Abschnitt zu den "Internationalen Ansätzen", der nur isolierte Schlaglichter liefert. Hier findet etwa die wichtige "Holocaust Education" in den USA mit der Ausnahme eines isolierten Holocaust-Curriculums überhaupt keinen Platz. Zum ersten überblicksartigen Kennenlernen des Lernfelds oder zur Prüfungsvorbereitung eignet sich der Band mithin nur bedingt, dafür vermittelt er einen guten Einblick in die Heterogenität der gegenwärtigen pädagogischen und didaktischen Beschäftigung mit den Verbrechen und der Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus.
Anmerkungen:
[1] Hanns-Fred Rathenow / Norbert H. Weber (Hgg.): Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in der Lehrerbildung, Hamburg 2005.
[2] Siehe etwa Peter Gautschi / Meik Zülsdorf-Kersting / Beatrice Ziegler: Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert, Zürich 2013.
[3] Wolfgang Meseth / Matthias Proske / Frank-Olaf Radtke (Hgg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt / Main 2004; Meik Zülsdorf-Kersting: Sechzig Jahre danach - Jugendliche und Holocaust - Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation (= Geschichtskultur und historisches Lernen, Bd. 2), Münster 2007.
Oliver Plessow