Nils Löffelbein: Ehrenbürger der Nation. Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in Politik und Propaganda des Nationalsozialimus (= ZdW - Schriftenreihe Zeit der Weltkriege; Bd. 1), Essen: Klartext 2013, 494 S., ISBN 978-3-8375-0839-0, EUR 36,95
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Als im Herbst 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, kommentierte Reichskriegsopferführer Hanns Oberlindober dies mit den Worten: "Der deutsche Frontsoldat von 1914, der immer den Frieden gewollt hat, steht wieder unter den Fahnen und verteidigt ein Vaterland, das ihm gehört. Er sieht in seinem Einsatz seinen Dank an den Führer, der seine Soldatenehre wiederhergestellt hat, in blindem Vertrauen für Adolf Hitler, seinem Kriegskameraden vom letzten Kriege, ist er bereit, das letzte zu opfern, um das Reich zu erhalten." (406) In dieser Aussage spiegelt sich nicht nur das Selbstverständnis der nationalsozialistischen Kriegsopferpolitik wider, sondern auch deren tiefe Widersprüchlichkeit, wurden die Leiden der Kriegsversehrten hier doch als freiwillige Opfer angesehen, die sich das NS-Regime sowohl für die Friedens- als auch für die Kriegspropaganda zu Nutze machte.
Nils Löffelbein hat in seiner von Gerd Krumeich betreuten Dissertation die Rolle der Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in der nationalsozialistischen Propaganda und Politik von Anfang der 1920er-Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs untersucht. Entlang seiner These, dass eine "massive Instrumentalisierung der Kriegsbeschädigten für die politischen Ziele der Nationalsozialisten" (16) stattgefunden habe, möchte Löffelbein der bisherigen Forschung, in der diese sehr große Bevölkerungsgruppe [1] wenig beachtet und in seinen Augen unterschätzt wurde, einen wichtigen Aspekt hinzufügen. Die Arbeit versteht sich als "Beitrag zur politischen Kulturgeschichte", die aber neben der Symbolpolitik auch den politischen und institutionellen Hintergrund der NS-Kriegsopferpolitik analysiert, um deren Methoden und Erfolg beurteilen zu können. Hervorzuheben ist, auf welch umfangreicher und differenzierter Quellenbasis die Arbeit fußt: Die nur fragmentarische Überlieferung der Nationalsozialistischen Kriegsopferversorgung (NSKOV) wurde durch die Auswertung eines breiten Spektrums an Presseerzeugnissen, NS-Publikationen und Verbandsorganen ergänzt.
Der chronologisch-systematisch aufgebaute Hauptteil beginnt mit einer Darstellung der Ausgangssituation in der Weimarer Republik. Diese war dadurch gekennzeichnet, dass die hunderttausenden Kriegsinvaliden, die ein beträchtliches Wähler- und Protestpotential darstellten, aus der militärischen Veteranenversorgung in die allgemeinen Sozialsysteme eingegliedert wurden, um so ihre Entmilitarisierung voranzutreiben. Der bewusste Verzicht auf jegliche symbolische Würdigung ihrer Opfer in Verbindung mit Rentenkürzungen im Zuge der Weltwirtschaftskrise erzeugte bei vielen Kriegsversehrten den Eindruck, "von Staat und Gesellschaft vergessen worden zu sein" (44). Zahlreiche Kriegsopferverbände jeglicher politischer Couleur forderten für ihre Mitglieder zwar einen ehrenvollen Platz in der Gesellschaft, konnten aber aufgrund von Querelen untereinander nur begrenzte Wirkung entfalten.
Die Nationalsozialisten, deren Gründungsmythos das "Erbe der Front" für ihre Bewegung beanspruchte, stießen treffsicher in die "symbolpolitische Lücke" (120), die die übrigen Parteien in der Kriegsopferpolitik ließen, wenn sie die Degradierung der Invaliden zu "Bettlern und Rentenempfängern" (75) anprangerten und weitgehende Versprechungen machten, wie die Ehre der Kriegsversehrten wiederhergestellt werden sollte. Eine solche Propaganda stand in krassem Gegensatz zum ansonsten auffälligen Desinteresse der NSDAP an sozialpolitischen Fragen. Auffälliger noch ist der Gegensatz zwischen den sozialdarwinistischen Vorstellungen sowie dem Ideal des harten, unbesiegbaren und makellosen Soldaten in der NS-Ideologie und der Tatsache, dass mitunter schwer verstümmelte Veteranen zu Helden stilisiert wurden. So blieb die Vorgehensweise der Nationalsozialisten auch nach der Machtübernahme 1933 zweischneidig: Im Umgang mit den Kriegsversehrten gerierte sich selbst Hitler als Kriegsbeschädigter und Leidensgenosse, während in der allgemeinen Propaganda auf Darstellungen von entstellenden Kriegsverletzungen zugunsten harmlos wirkender Kopfbinden und Krücken verzichtet wurde.
Reichskriegsopferführer Hanns Oberlindober (1896-1949), selbst Schwerkriegsbeschädigter und "Alter Kämpfer" mit SA-Karriere, war die bestimmende Gestalt der NS-Kriegsopferpolitik und baute die NSKOV zuerst zum größten und dann alleinigen Kriegsopferverband auf. Seine weitgehenden Machtambitionen führten jedoch zu einer massiven Auseinandersetzung um die zentrale Zuständigkeit für alle ehemaligen Soldaten mit Reichskriegerführer und Wehrmachtsgeneral Wilhelm Reinhard, in der er unterlag. Oberlindobers Ziel war die Remilitarisierung des Kriegsopferverbands, um einerseits den Pazifismus der Weimarer Republik abzustreifen und andererseits die Stellung der NSKOV als Frontkämpferorganisation deutlich zu machen. Dies erreichte er ab 1936 durch die Bildung von sogenannten "Ehrenabteilungen", in denen zahlreiche "marschfähige" Mitglieder ihre soldatischen Ideale kultivierten.
Im Vordergrund der Arbeit steht jedoch die Praxis der nationalsozialistischen Kriegsopferpolitik, in der sich symptomatisch die Widersprüchlichkeit der NS-Herrschaft zeigt, wenn beispielsweise in Straßenkämpfen der 1920er-Jahre versehrte NSDAP-Mitglieder in der Versorgung plötzlich mit Weltkriegsveteranen gleichgestellt, gleichzeitig aber tausende Kriegsversehrte aufgrund medizinisch fragwürdiger Nachuntersuchungen von den Leistungen ausgeschlossen wurden. Ähnliches gilt für den Umgang mit psychisch erkrankten Veteranen, deren Behinderungen nicht als Kriegsfolgen anerkannt, sondern vielmehr als Ausweis mangelhaften Erbguts oder als Simulantentum bewertet wurden. Sie wurden zu Tausenden zwangssterilisiert oder fielen der Euthanasie zum Opfer. Die vorläufige Einstellung des Euthanasieprogramms im August 1941 ging, wie Löffelbein zeigen kann, nicht zuletzt auf die erhebliche öffentliche Sprengkraft der Gerüchte um die Ermordung deutscher Weltkriegssoldaten in Euthanasieeinrichtungen zurück.
Ein weiterer Aspekt, der die Bedeutung der Kriegsbeschädigten in der Propaganda des NS-Regimes vor Augen führt, ist ihre Instrumentalisierung für die Friedenspropaganda der 1930er-Jahre. So wurden Begegnungen mit Weltkriegsveteranen und Kriegsversehrten aus dem gesamten europäischen Ausland und darüber hinaus gefördert, wobei die Kriegsopfer stets als sinnfällige Garanten für den Friedenswillen Hitlers präsentiert wurden. Diese vor allem gegenüber Frankreich durchaus erfolgreichen Bestrebungen fanden mit der Radikalisierung der nationalsozialistischen Außenpolitik 1938 allerdings ein rasches Ende. Nicht so die Instrumentalisierung der Kriegsbeschädigten: Während des Zweiten Weltkriegs wurden sie zur Betreuung verletzter Soldaten in Lazaretten eingesetzt und sollten als Vorbilder den Durchhaltewillen und die Opferbereitschaft der Wehrmachtssoldaten befördern.
Löffelbeins Arbeit, die von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als "Beste Dissertation des Jahres 2012" ausgezeichnet wurde, analysiert anschaulich den Umgang der Nationalsozialisten mit den Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs und kann dabei die erhebliche Bedeutung dieser Gruppe für Propaganda und Symbolpolitik des NS-Regimes belegen. Die Dissertation modifiziert bisherige Forschungsmeinungen in wesentlichen Punkten ebenso wie sie unserem Bild der in vielerlei Hinsicht widersprüchlichen nationalsozialistischen Politik eine weitere Facette hinzufügt. Eine zu Recht preisgekrönte Arbeit.
Anmerkung:
[1] Löffelbein nennt unter Bezugnahme auf Richard Bessel (1983) eine Zahl von etwa 3 Millionen Kriegsversehrten nach Ende des Ersten Weltkriegs (36).
Raphael Gerhardt