Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz. Mit einem Anhang: 50 Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 362 S., ISBN 978-3-506-77592-4, EUR 34,90
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Gerd Krumeich: Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen, München: C.H.Beck 2014, 160 S., 7 Abb., 3 Karten, ISBN 978-3-406-65941-6, EUR 10,95
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Man kommt in diesen Tagen aus dem Staunen nicht heraus: Da bemüht sich die historische Forschung seit Jahrzehnten, die alte Schulddebatte zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu überwinden und stattdessen lieber nach kulturellen und sozialen Bedingungen, nach strukturellen und systematischen Belastungen des Staatensystems, nach gegenseitigen Bildern, außenpolitischer Kommunikation oder nach der Balance zwischen Unvermeidlichkeit und Unwahrscheinlichkeit des Krieges zu fragen. [1] Doch kaum steht ein Jahrestag ins Haus und damit mehr als wissenschaftliche Aufmerksamkeit, geht es beim Kriegsausbruch von 1914 fast nur noch um das eine, um die Verteilung von Schuld und Verantwortung. Da wird ein Buch wie das von Christopher Clark zur Sensation, das bei Lichte betrachtet vor allem den erreichten Forschungsstand bündelt (auf beeindruckende Weise). Das Ende der Fischer-These wird ausgerufen, obwohl die Forschung diese Debatte seit mindestens zwei Jahrzehnten verabschiedet hat. Selbst ein Internetportal wie t-online schaltet eine eigene Seite zum Ersten Weltkrieg und verkündet dort lauthals als "neue" These: "Die Deutschen hatten den Krieg nicht geplant." Die mehreren hundert Beiträge des dazugehörigen Userforums liest man am besten gar nicht. [2]
Gerd Krumeich muss das alles geahnt haben, denn was der Experte für die Kultur- und Erinnerungsgeschichte des Ersten Weltkriegs in seinem neuen Buch "Juli 1914" liefert, ist vor allem eine ganz traditionelle Schilderung der auf das Attentat von Sarajewo folgenden Ereignisse. Es geht tages-, stunden- und, wenn nötig, minutengenau darum, welcher Diplomat was zu welchem Kollegen gesagt hat, wann in Wien, Berlin oder London die Regierung beraten hat und wer nun als erster welche militärischen Maßnahmen eingeleitet hat.
Das ist, ich gestehe es, nach bald 100 Jahren Forschung für den Experten einigermaßen ermüdend, zumal wenn, wie bei Krumeich, bewusst alle anderen Faktoren als die der konventionellen Politikgeschichte weitgehend ausgeblendet werden. Nicht um Öffentlichkeit, um innenpolitische oder gesellschaftliche Ziele, so Krumeich, ging es in der Julikrise, sondern um "das Funktionieren des internationalen Mächtesystems, um Gleichgewicht, Vorrang und um Zukunftsperspektiven." (14) Auf der anderen Seite: Warum denn nicht? Wenn genau das ein breiteres Publikum interessiert, sollte die Chance genutzt werden. Wenn die Öffentlichkeit bisher nicht registriert hat, dass die Fischer-Kontroverse seit etlichen Doktorandengenerationen vorbei ist, ist es vermutlich vor allem die eigene Schuld der Historiker. Messen wir also Gerd Krumeichs Darstellung an dem selbst gewählten Ansatz.
Grundsätzlich ist die eigentliche Darstellung in der um einen Dokumentenanhang erweiterten Studie dreigeteilt. An erster Stelle steht ein relativ kurzes Eingangskapitel über die langen bzw. längeren Wege in den Krieg. Auf jeweils kaum zehn Seiten geht es um die Ausbildung des Bündnissystems, den Imperialismus, das Wettrüsten, über Nationalismus oder die Kriegsvorstellungen vor 1914. Es folgt der bei weitem längste Teil über die Julikrise selbst, der - wie gesehen - fast ausschließlich den politisch-diplomatischen Aktionen gewidmet ist. Am Ende der Darstellung steht ein etwa 20-seitiger "Epilog", der als Forschungsbericht angelegt ist. Es folgen im Anhang 50 ausgewählte Schlüsseldokumente aus der Zeit vom 29. Juni bis zum 4. August 1914. Die meisten Dokumente entstammen Imanuel Geiss' zweibändiger und bis heute wertvoller Sammlung von Dokumenten zum Kriegsausbruch aus den Jahren 1963/64. Entsprechend informieren sie über politisch-militärische Kalküle und die dazugehörigen diplomatischen Manöver.
Im Ergebnis hat Krumeich eine plausible Darstellung der Ereignisse der Julikrise vorgelegt. Die in ihr angelegte Deutung wird den Experten allerdings nicht überraschen. Krumeich folgt seiner eigenen und der durch seinen Lehrer Wolfgang J. Mommsen vorgegebenen Linie. Danach sind es vor allem die Mittelmächte gewesen, die die Krise verschärften. Die Alleinschuld freilich trugen sie nicht, abgestuft hatten auch die Regierungen Russlands, Frankreichs und - am wenigsten - Großbritanniens ihren Anteil. Die deutsche Reichsregierung wollte nicht unbedingt den Krieg, suchte den "großen Krieg" sogar zu vermeiden. Den österreichisch-serbischen Konflikt förderte man aber sehr wohl und plante, ihn zum Testfall der russischen Kriegsbereitschaft zu machen. Wollte Russland den Krieg, wovon man aus Krumeichs Sicht in Berlin zunächst eher nicht ausging, war es besser, ihn jetzt als später zu führen. Kurz, die Politik war die eines kalkulierten, besser unkalkulierbaren Risikos.
Das alles ist differenziert argumentiert, die in der Darstellung herangezogenen Dokumente werden quellennah und wohl auch für den Laien nachvollziehbar gedeutet. Die vorgetragene Interpretation einer erheblichen, aber keineswegs ausschließlichen Verantwortung der deutschen und österreichischen Führung hat auch dem Rezensenten stets eingeleuchtet. Es seien dennoch einige Kritikpunkte angemerkt:
So ist der Untertitel "Eine Bilanz" nicht wirklich eingelöst. Wenn die Debatte um den Ersten Weltkrieg hier bilanziert wird, dann ist es in erster Linie eine Bilanz der Forschungsrichtung, die Krumeich selbst vertritt. Neuere Arbeiten werden zwar genannt, eine tatsächliche Auseinandersetzung mit ihnen findet aber nicht statt. [3] Das gilt auch für Christopher Clark, der zwar oft erwähnt wird, dessen Deutungen aber meist ohne weitere Diskussion zurückgewiesen werden. Dabei sind viele Passagen jüngerer Arbeiten tatsächlich bemerkenswert. Erinnert sei nur an das Urteil von Konrad Canis, wonach die deutsche Politik gemessen an zeitgenössischen Kriterien legitim gewesen sei, die russische aber nicht! [4] Von solchen markanten Einschätzungen erfährt man in dieser Bilanz nichts. Überhaupt bricht der abschließende Forschungsbericht nach der Fischer-Kontroverse geradezu abrupt ab.
Problematisch erscheint mir auch die abermalige Konzentration auf das Deutsche Reich. Zwar erhebt Krumeich den Anspruch, diese zu verlassen und auch die Perspektive der anderen ausführlich einzubeziehen. Dies geschieht aber höchstens zum Teil. Das gilt für den Dokumententeil, in dem die Hälfte der Quellen der Reichsleitung zugeordnet ist (für den Zweibund insgesamt sind es zwei Drittel). Es zeigt sich aber ebenso in der Darstellung. Ob bei Kriegsbild, Militarismus oder der Kriegserwartung, in allen Aspekten erfährt man deutlich mehr über die Berliner Führung als über die anderen. Dementgegen halte ich es für ein wichtiges Ergebnis der letzten Jahre, dass das Deutsche Reich - weniger was die Kriegsschuld anbelangt, sondern aufgrund systematischer Erwägungen - aus dem Mittelpunkt der Interpretationen ein Stück weit vertrieben worden ist. Eklatant ist die abermalige Konzentration auf Deutschland etwa bei der Frage von Einkreisung respektive Auskreisung, die auch bei Krumeich eine wichtige Rolle spielt. In vielerlei Hinsicht war es nämlich weder das eine noch das andere. Vor allem die britische Umorientierung hatte viel mit dem Empire sowie den britisch-französischen oder britischen-russischen Beziehungen zu tun, nur zum Teil etwas mit dem Deutschen Reich.
Ähnlich schade ist es, dass in dieser "Bilanz" die Frage der Unvermeidlichkeit ausgespart wird. Man muss selbstverständlich nicht so weit gehen, den Krieg als unwahrscheinlich zu deklarieren, aber die in der Frage danach angelegte Spannung zwischen historischem Determinismus und Zufall ist bei einem so monumentalen Ereignis sicher von besonderem Reiz und hätte auch in einer an das breite Publikum gerichteten Darstellung eine Erwähnung verdient gehabt. Es hätte Krumeichs wiederholt geäußertes Bekenntnis, dass der Historiker nicht vom Ergebnis her argumentieren sollte (z. B. 9), weiter gestärkt. So bleibt es die sehr konventionelle Darstellung von Militarismus, Nationalismus und internationalen Krisen, die den Kriegsausbruch und seine Folgen allzu glatt in die Vorkriegszeit projiziert.
Schließlich seien einige Ungenauigkeiten und schiefe Urteile erwähnt. Sie sind vielleicht dem Zeitdruck in Jubiläumsjahren geschuldet. Dabei ist der Hinweis zu Beginn, dass Preußen im Krimkrieg gegen Russland gekämpft habe, sicher nur passiert (15). Doch warum wird drei Seiten später bei der Darstellung des Bündnissystems der Dreibund, aber nicht der Zweibund erwähnt? (17) Warum soll vor 1914 nur das "männliche" Volk Zeitung gelesen haben? (18) Die deutschen Herrschaftsstrukturen waren sicher konservativ. Aber waren sie "atavistisch"? (21) Schließlich ist auch die Aussage problematisch, dass seit den Aktenpublikationen der Zwischenkriegszeit im Grunde die "Quellenbestände vorlagen, auf denen die Forschung auch heute" noch aufbaut und seitdem "nur noch ganz vereinzelt" relevante Quellen aufgetaucht seien. (9) Dies gilt höchstens, wenn man versucht, den Kriegsausbruch allein aus der Julikrise heraus zu erklären. Bei allen weiteren Fragestellungen sind auch in letzter Zeit noch viele Archivbestände erschlossen worden (selbst in den Außenministerien). Und dies verweist wiederum darauf, dass eine Darstellung, die sich - wie akribisch auch immer - vor allem auf die Ereignisketten der Julikrise konzentriert, für die Frage nach den Ursachen des Krieges längst nur noch von begrenztem Wert ist.
Manche der angeführten Kritikpunkte gelten ebenso für den zweiten hier zu besprechenden Band. Auch in "Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen" scheint Europa vor 1914 weitgehend deterministisch auf den Krieg zuzusteuern. Aber natürlich zwingt das Format noch mehr zur Kürze und daran gemessen ist der Band insgesamt gelungen. In sieben größeren Abschnitten werden 101 Fragen insbesondere zu Kriegsausbruch, Kriegsverlauf, Politik, Front und Heimat, Kultur, Technik sowie den Folgen des Krieges beantwortet. Die Auswahl überzeugt. Lediglich zur Kriegswirtschaft hätte man sich weitere Informationen gewünscht (auch wenn eines der Kapitel "Wirtschaft" in der Überschrift führt). Der Leser wird kurz und bündig über Uniformen, Geschütze, das Ausmaß der tatsächlichen "Kriegsbegeisterung", über die Frage der Frauenemanzipation, die Spanische Grippe, die Dolchstoßlegende oder die "Mission Hoyos" informiert. Ein wenig schade ist es wiederum, dass auch hier der Blick allzu häufig überwiegend auf Deutschland fällt. Zwar hat zum Beispiel der ANZAC Day einen Eintrag erhalten. In vielen anderen Fällen bleibt es bei der deutschen Perspektive. Besonders auffällig ist dies bei mehreren Passagen zur literarischen Verarbeitung des Krieges. Die Frage verwunderter deutscher Touristen, warum so viele Briten im November Mohnblüten an der Kleidung tragen, wird man mit diesem Band nicht beantworten können. In gewisser Weise bleibt der Krieg so auch hundert Jahre nach seinem Ausbruch ein nationales Ereignis.
Anmerkungen:
[1] Zu Letzterem z.B.: Holger Afflerbach / David Stevenson (eds.): An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914, 2nd ed., Oxford / New York 2012 (http://www.sehepunkte.de/2009/10/16745.html); Friedrich Kießling: Wege aus der Stringenzfalle. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs als "Ära der Entspannung", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), 284-304.
[2] http://www.t-online.de/nachrichten/specials/id_67343564/erster-weltkrieg-deutsche-nicht-allein-schuld-und-zudem-ziellos.html (letzter Abruf: 20.3.2014).
[3] Z.B. im Falle von: Stephen Schröder: Die englisch-russische Marinekonvention. Das Deutsche Reich und die Flottenverhandlungen der Tripelentente am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Göttingen 2006 (http://www.sehepunkte.de/2007/09/12024.html); Andreas Rose: Zwischen Empire und Kontinent. Britische Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, München 2011.
[4] Conrad Canis: Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902-1914, Paderborn u.a. 2011, 684f.
Friedrich Kießling