Rezension über:

Sven-Oliver Müller / Cornelius Torp (Hgg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 461 S., ISBN 978-3-525-36752-0, EUR 39,90
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Rezension von:
Friedrich Kießling
Department Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Kießling: Rezension von: Sven-Oliver Müller / Cornelius Torp (Hgg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/14888.html


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Sven-Oliver Müller / Cornelius Torp (Hgg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse

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Der Sammelband ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Jahr 2007 aus Anlass des 75. Geburtstags von Hans-Ulrich Wehler am Wissenschaftszentrum Berlin stattfand. Er würdigt die bedeutende Rolle, die die Arbeiten Wehlers für die Erforschung des Kaiserreichs seit fast 40 Jahren gespielt haben. Der in der Einleitung formulierte Anspruch reicht über die Beschäftigung mit einem einzelnen Werk, wie wichtig es auch immer gewesen sein mag, aber auch hinaus. In kritischer Auseinandersetzung mit älteren, von Wehler mitgeprägten Konzepten sollen Forschungsrichtungen und Themen vorgestellt werden, die in den letzten Jahren in den Vordergrund getreten sind.

Letztendlich geht es also um eine Bestandsaufnahme der jüngsten Kaiserreichforschung und eine solche beginnt mit der Auswahl der Gegenstände: Die beiden Herausgeber Sven Oliver Müller und Cornelius Torp haben sich für vier Themenbereiche entschieden. Einer davon - er ist "Gesellschaft, Politik und Kultur" überschrieben - bezieht sich unmittelbar auf die zentralen "Achsen", mit denen Wehler die deutsche Geschichte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu fassen versucht hat. Die beiden folgenden, "Krieg und Gewalt" sowie "Das Kaiserreich in der Welt", lösen sich dann deutlich davon. Ein vierter Abschnitt (im Buch ist er der erste) ist ganz grundsätzlich dem "Kaiserreich in der deutschen Geschichte" gewidmet und schließt wiederum stärker an die Arbeiten von Hans-Ulrich Wehler an. Es geht hier unter anderem um die Auseinandersetzung mit der Sonderwegsthese oder den an Modernisierungstheorien orientierten Untersuchungen.

Viele der Beiträge bieten ebenso kompetente wie prägnante Einführungen in die jeweiligen Forschungsfelder. Das gilt etwa für den Überblick von Birthe Kundrus über die Kolonialgeschichte, den Aufsatz von Stephan Malinowski zur Adelsgeschichte oder Alan Kramers Darlegungen zur Frage, inwieweit die deutsche Kriegführung zwischen 1914 und 1918 auf den Vernichtungskrieg des Zweiten Weltkriegs hindeutete. Doch es kann hier nicht darum gehen, die im Übrigen durchweg auf hohem Niveau befindlichen Einzelbeiträge vorzustellen. Angesichts der gewürdigten Person und dem in der Einleitung formulierten Anspruch soll vielmehr gefragt werden, welche allgemeinen Rückschlüsse auf die Diskussion um das Kaiserreich der Band zulässt. Vier Punkte seien exemplarisch herausgehoben:

Erstens: Bemerkenswert ist zunächst der zeitliche Schwerpunkt der Beiträge. Während viele ältere Arbeiten von der Reichsgründung ausgingen und entsprechend fragten, welche Festlegungen seiner Entstehungsphase die Geschichte des Kaiserreichs und mithin die weitere deutsche Geschichte prägten, interessiert sich die überwiegende Zahl der hier versammelten Beiträge vor allem für die Wilhelminische Zeit. So beobachtet Frank Bösch seit den 1890er Jahren einen Anstieg der Zahl an großen Skandalen im Kaiserreich und macht daran einen Wandel der politischen Kommunikation fest. Die bestehende politische Machtverteilung wurde durch Presse und Öffentlichkeit zumindest herausgefordert bzw. delegitimiert. In einigen Fällen gelang es so tatsächlich, Macht gegen den "Obrigkeitsstaat" auszuüben. Ähnliche zeitliche Schwerpunkte setzen auch Manfred Hettling in seinem Beitrag zur Sozialgeschichte des Bürgertums, Sebastian Conrad über "Mobilität und Nation" im Kaiserreich oder Volker Berghahn, der den Blick der amerikanischen Geschäftswelt auf Deutschland untersucht.

Die Konzentration auf die Zeit nach 1890 hat zweitens weitreichende Folgen für den Blick auf das Kaiserreich insgesamt. Es erscheint nun weniger als das paternalistische, vom virtuosen Machtspiel Bismarcks geprägte Gebilde, in dem die traditionellen Kräfte gleichsam von oben und trotz mancher (schein-)demokratischer Zugeständnisse ihren Status verteidigten und letztlich behaupteten. Stattdessen wird das Kaiserreich zum wirtschaftlich expandierenden, sich sozial immer weiter ausdifferenzierenden Land, das zudem von einer hohen Mobilität sowie vielfachen kulturellen und schließlich auch politischen Aufbrüchen "von unten" geprägt war. Nicht Statik und Beharrung, sondern mehr oder weniger rasante "Transformation" (Benjamin Ziemann, 58; Hettling, 223), "Dynamik" (Ziemann, 64; Conrad, z.B. 420), "Wandel" (James Retallack, 135; Ute Planert, 166), "Veränderung" (Bösch, 142) oder "Geschwindigkeit" (Torp, 423) sind die Stichworte zahlreicher Beiträge. Das Kaiserreich erscheint darüber hinaus als ein Land, in dem viele Entwicklungen - von der Urbanisierung über die Wendung zum Kolonialstaat, zum Einwanderungsland oder Industriestaat - besonders schnell abliefen (z.B. Kundrus, 368; Conrad, 413). Im "autoritären Gefüge des Kaiserreichs", so Thomas Mergels zunächst auf die Migrationsgeschichte bezogene, aber dann auf andere Gegenstandsbereiche ausgeweitete Bemerkung, "war viel in Bewegung." (374)

An diesem Punkt wird deutlich, und das führt zum dritten Aspekt, wie weit sich die Forschung inzwischen von den Perspektiven der 70er Jahre entfernt hat. Der Ausgangspunkt von Hans-Ulrich Wehler und anderen war die Frage nach den obrigkeitsstaatlich-autoritären Zügen des Kaiserreichs. Dieser Zugang erscheint in dem Band beinahe vollständig in sein Gegenteil verkehrt. Nicht die autoritären Überhänge, sondern die Frage, wie liberal das Kaiserreich eigentlich war, steht nun zur Debatte. Einher geht diese Perspektivenumkehrung, die auch in Beiträgen älterer Autoren wie Heinz-Gerhard Haupt ("Gewalt als Praxis und Herrschaftsmittel. Das Deutsche Kaiserreich und die Dritte Republik in Frankreich im Vergleich, 164) ihren Niederschlag findet, mit der weitgehenden Abkehr vom normativen Modernebegriff, wie er der klassischen Modernisierungstheorie zugrunde lag. Die Entdeckung einer ambivalenten Moderne, mit hellen und dunklen Seiten, zeigt bei der überwiegenden Zahl der Beiträge weiterhin seine Wirkung. Detlev Peukert mit seinem Modernekonzept fungiert als der eigentliche Gegenautor zu Hans-Ulrich Wehler (z.B. Helmut Walser Smith, 41-44; Shulamit Volkov, 71; implizit auch Bösch, 139). Ebenso problematisch ist aus der Sicht vieler Beiträge der Versuch, die unterschiedlichen Dimensionen des Kaiserreichs schlüssig zusammenzuführen. Dies fällt insbesondere in dem "Gesellschaft, Politik und Kultur" überschriebenen Abschnitt auf. Die hier vertretenen Autoren agieren allesamt sehr vorsichtig, wenn es darum geht, etwa die Beobachtungen aus Gesellschaft und Kultur auf die politische Sphäre zu übertragen. Explizit setzt sich Benjamin Ziemann in seinem Aufsatz über das Kaiserreich als "Epoche der Polykontexturalität" mit diesem Problem auseinander. Er macht die Komplexität, "Dekomposition" bzw. "Emergenz" (52f.) ganz unterschiedlicher (Teil-)Systeme zum Angelpunkt der Analyse, die es unmöglich mache, Gesellschaft als eine "kompakte Einheit" zu verstehen. "Fehlentwicklungen und Deformationen eines Teilsystems können somit nicht umstandslos der Gesamtgesellschaft zugerechnet werden und damit auch das Urteil über eine Epoche bestimmen." (52)

Gegenüber solchen Veränderungen des historischen Blicks auf das Kaiserreich scheint viertens die Faszination für die Frage der Kontinuität in der deutschen Geschichte ungebrochen zu sein, wobei, folgt man der überwältigenden Zahl der Beiträge, weiterhin die Beziehung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus im Mittelpunkt steht. Auch hier sind es allerdings eher die "modernen" Züge, vorwiegend ab den 1890er Jahren, sowie im Ersten Weltkrieg identifizierbare Prozesse, die das Interesse auf sich ziehen. Es bleibt Helmut Walser Smith vorbehalten, auf die Kosten einer solchen, im Lichte der Sonderwegsthese stark verkürzten Kontinuitätslinie hinzuweisen. Im Kern bedeute diese Festlegung, die wiederum die Jahre 1890 bzw. 1900 etwa gegenüber 1866/71 als entscheidende Zäsuren privilegiert, eine Entkoppelung des 19. vom 20. Jahrhundert. Damit aber, so Smith, sei letztlich das "Gespür für die Kontinuitäten der deutschen Geschichte geschwächt" worden (35). Wer den Nationalsozialismus und seine Verbrechen vor allem auf den um 1900 immer stärker fassbaren Moment von "moderne[r] Rationalität, Wissenschaft und Disziplinierung des Körpers" (43) zurückführe, unterschätze nicht nur die archaischen Elemente des NS-Massenmords, sondern befinde sich auch auf einer problematischen sozialgeschichtlichen Basis (48).

Ein einzelner Sammelband kann selbstverständlich nicht alle Aspekte der aktuellen Debatte über einen historischen Gegenstand wie das deutsche Kaiserreich erfassen. Der Ansatz des Bandes, die heutige Diskussion mit der kritischen Würdigung des Werks von Hans-Ulrich Wehler zu verbinden, überzeugt insgesamt dennoch. Dass das Vorhaben gelingt, zeigt noch einmal, wie fruchtbar die mit dem Werk Wehlers verbundenen Anstöße über die Jahrzehnte geblieben sind. Dass im Ergebnis vieles heute doch anders erscheint, spricht keineswegs gegen diese Beobachtung. In vielen Fällen sind die Neudeutungen gerade in Auseinandersetzung mit den älteren Interpretationen entwickelt worden. Man wird aber trotzdem die Grenzen des in dem Sammelband aufgezeigten Diskussionszusammenhangs im Auge behalten müssen. Das weitgehende Fehlen wichtiger Themenbereiche - der in letzter Zeit viel bearbeitete Komplex des "Wissens", die internationalen Beziehungen oder (mit Einschränkungen) auch die Transfergeschichte - macht deutlich, dass es auch in den zurückliegenden Jahrzehnten andere als die hier vor allem vorgestellten Zugänge gab. Und schließlich wird man wohl auch noch einmal festhalten müssen, dass zumindest zu einem der Schwerpunkte des Bandes, der Einbettung des Kaiserreichs in die "Internationale Geschichte", kaum Wege aus den 1970er oder 1980er Jahren zur Diskussion von heute führen.

Friedrich Kießling