Anke Blümm: »Entartete Baukunst«? Zum Umgang mit dem Neuen Bauen 1933-1945 (= Schriften der Berliner Forschungsstelle 'Entartete Kunst'), München: Wilhelm Fink 2013, 485 S., ISBN 978-3-7705-5588-8, EUR 49,90
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Seit dem Fall Cornelius Gurlitt wird das Thema "Entartete Kunst" von der medialen Öffentlichkeit wieder mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Doch wer hat, abgesehen von ausgewiesenen Fachleuten, schon jemals etwas von "Entarteter Baukunst" gehört? Mit der Frage des Umgangs mit dem Neuen Bauen in der Zeit des Nationalsozialismus hat sich Anke Blümm in ihrer 2013 publizierten Dissertation eingehend beschäftigt. Ihre Betrachtungen reichen jedoch weit über das Architekturgeschichtliche hinaus und tief hinein in die Geschichte der Institutionen des "Dritten Reichs", hinein in die Konflikte zwischen dem Bund Deutscher Architekten (BDA), der Reichskammer der bildenden Künste (RdbK) sowie dem Kampfbund Deutscher Architekten und Ingenieure (KDAI). Auch beschränkt sie sich nicht auf die Baugeschichte exemplarischer Bauten und Ensembles des Neuen Bauens. Die Tätigkeit einzelner Akteure und Verwaltungen in den von ihr ausgewählten Städten Dessau, Stuttgart, Berlin-Eichkamp und Altona findet in ihrer Arbeit ebenso Berücksichtigung wie die knappe aber dichte Analyse der wichtigsten Architekturzeitschriften während der NS-Zeit.
Der Begriff "Entartete Baukunst" dient als Aufhänger ihrer Untersuchung. Er ist, so Blümm in ihrer Einleitung, einem Werk "des Münchener Kunsterziehers und NSDAP-Mitglieds Georg Schorer" (9) entnommen. Als Strategien der Verfemung von Werken der "Entarteten Kunst" galten deren Herabwürdigung in Wort und Bild, die personelle Kontrolle durch die Reichskulturkammer sowie die Einziehung und Zerstörung oder der Verkauf der Objekte. Was mit den Werken der bildenden Kunst problemlos gelang, war hinsichtlich der "Ausmerzung" des Neuen Bauens ungleich schwieriger. Architektur stellte einen Sonderfall dar und konnte nur unter erheblichem finanziellen Aufwand zerstört oder, wie Blümm in ihrer Arbeit nachweist, gemäß den nationalsozialistischen Kunstvorstellungen umgebaut werden.
Zur Architekturgeschichte der Moderne gehört bekanntlich der teilweise sehr polemisch ausgetragene Dächerstreit: Flachdach versus Steildach. In den 1920er- und 1930er-Jahren des 20. Jahrhunderts waren diese beiden Dachformen und ihre Verwendung im Wohnungsbau ideologisch besetzt und boten gerade den konservativen Gegnern des Neuen Bauens immer wieder Anlass zur Kritik. Dies zeigte sich nach der "Machtergreifung" 1933 auch in baulichen Maßnahmen. Der Fragenkatalog für Blümms Untersuchung ist komplex: "1. Wie wurde das Neue Bauen wahrgenommen und in den Architekturzeitschriften dargestellt? 2. Gab es gesetzliche Regelungen zur Kontrolle von Architekten und Architektur? 3. Wie wurde mit der Architektur des Neuen Bauens nach 1933 umgegangen? Ist es zu 'Entmodernisierungen' existierender Architektur gekommen?" (14)
Diffamierende Äußerungen über moderne Kunst gab es seit jeher. Doch gewann die Auseinandersetzung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zusehends an Schärfe. "1918 verwendete ein Kunstkritiker, gemünzt auf den Expressionismus, zum ersten Mal den Begriff 'Kunstbolschewismus'" (24), so Blümm im zweiten Kapitel. Damit war ein Schlagwort geboren, dessen sich die Gegner des Neuen Bauens, insbesondere die des 1919 gegründeten Bauhauses, gerne bedienten. Die wirtschaftlichen Probleme der frühen Weimarer Republik verschärften die Konflikte innerhalb der Architektenschaft, zu denen die Blut-und-Boden-Ideologie Paul Schultze-Naumburgs ihren Teil beitrug. "Seine Position verhärtete sich im Laufe der 1920er-Jahre immer stärker zu einem rassisch-völkischen Kunstkonzept, womit er zu einem Vorreiter im Kampf gegen die 'Entartung' wurde." (26) Die wirtschaftlichen Verteilungskämpfe der frühen Nachkriegszeit waren "eine wichtige Motivation für Anschuldigungen finanzieller und politischer Art" (28), wurde das Neue Bauen doch immer wieder in die Nähe zur deutschen Sozialdemokratie gerückt.
Im dritten Kapitel widmet sich Blümm den Architekturdiskursen nach 1933 und konstatiert für die Anfangsjahre eine bewusst ambivalente Haltung vieler Vertreter der NS-Führung gegenüber dem Neuen Bauen. Sie betont, dass in Hitlers "Kulturreden" niemals "das Wort 'Baubolschewismus' oder eine Anklage gegen das Neue Bauen oder das Bauhaus" (35) fielen. Auch nach 1933 äußern sich einige Autoren in den Fachzeitschriften immer wieder positiv über das Neue Bauen, so etwa Otto Völckers in der Bauwelt (41). Eine explizite Gegenposition nahm dagegen die Deutsche Bauzeitung ein. Dabei war vor allem eine Baugattung heftigen Anfeindungen ausgesetzt: der Wohnungsbau. Hier agierten die Vertreter des Neuen Bauens technisch wie gesellschaftlich oftmals auf experimenteller Ebene gegenüber einer zumeist konservativen Klientel. Als wirksame Schutzmaßnahme gegen die weitere "Verschandelung" von Stadt und Landschaft betrachteten die Gegner des Neuen Bauens die Einschränkung der Bau- und Gewerbefreiheit sowie den Berufsschutz für Architekten, um den sich der gleichgeschaltete BDA nach Kräften bemühte.
Detailreich recherchierte Blümm für das vierte Kapitel die nicht immer leicht durchschaubare Geschichte der Reichskulturkammer und ihre "Maßnahmen zur 'Hebung der Baukultur'" (83ff.). Sie durchleuchtet die Anstrengungen des Regimes für den Berufsschutz der Architekten und verfolgt die Baugesetzgebung in den Jahren von 1933 bis 1945. Mit der Gründung der Reichskulturkammer am 1. November 1933 erfolgte "in einem bürokratischen Kunstgriff" (89) auch die Einverleibung des BDA, der sich zuvor noch erfolgreich gegen die Konkurrenz des von Alfred Rosenberg geleiteten KDAI und anderer Verbände durchgesetzt hatte.
Mit der "Architektenanordnung" bereitete Eugen Hönig, Präsident der Reichskammer der bildenden Künste, tiefgreifende Regelungen des Architektenschutzes vor. Der ersten Verkündung dieser Anordnung folgte eine heftige Protestwelle, die bis 1935 andauerte (102). Im Gegensatz zu den Erkenntnissen bisheriger Forschung belegt Blümm, dass dem BDA in der Reichskammer eine wesentlich stärkere Rolle zugewiesen worden war und der "Ausschluss aus 'künstlerischen Gründen'" (115) daher auf andere Weise erfolgte als bisher vermutet. Nachdem Hönig jedoch gescheitert und von Goebbels entlassen worden war, ruderte man zurück. Die neue "Architektenanordnung" verzichtete nunmehr auf den Berufsschutz (125) und ging mit neuen Mitgliedsanträgen geradezu willkürlich um.
Die Umbaupraxis gemäß nationalsozialistischen Vorstellungen geriet in den vier untersuchten Städten sehr unterschiedlich. Am weitesten preschte man in Stuttgart vor, wo mit der neuen "Ortsbausatzung" Fakten geschaffen wurden. Zugleich initiierte der neu eingesetzte Oberbürgermeister Karl Strölin seinen "Kampf um die Reinhaltung und Verschönerung der Stadt" (257) und bekämpfte konsequent und tatenreich das moderne Flachdach. Die berühmte Weißenhofsiedlung überstand diese Zeit nur, weil ein an ihrer Stelle geplanter Komplex eines Generalkommandos der Wehrmacht kriegsbedingt nicht mehr realisiert wurde. Die Maßnahmen zur "Entschandelung" hielten sich jedoch durchaus in Grenzen. Selbst in Dessau befand man das so oft geschmähte Bauhaus-Gebäude als zu wertvoll und hielt es nach baulicher Korrektur plötzlich für eine Umnutzung durch die Landesfrauenarbeitsschule geeignet (225ff.).
Blümms Arbeit liefert, durch zahlreiche Abbildungen dokumentiert, viele neue Erkenntnisse zur Geschichte der Reichskulturkammer und des BDA in der Zeit des Nationalsozialismus. Die in den vier ausgewählten Städten vorgenommenen Umbauten und Umnutzungen teilweise herausragender Werke des Neuen Bauens veranschaulichen nicht zuletzt die Ohnmacht der Machthaber, sich von dieser Epoche der Moderne endgültig zu verabschieden. Was den Nationalsozialisten auf institutionellem Wege - und vor allem aus Kostengründen - nicht gelang, besorgte dann allerdings der 1939 losgetretene Zweite Weltkrieg.
Ralf Dorn