Maḥmūd al-Ḫudairī Zainab: Falsafat at-tārīḫ ʿinda Ibn Ḫaldūn, Beirut: Dār at-tanwīr li aṭ-ṭibāʿa wa an-našr 2006, 215 S.
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ilja Steffelbauer / Khaled Hakami (Hgg.): Vom alten Orient zum Nahen Osten, Essen: Magnus Verlag 2006
Monique Bernards / John Nawas (eds.): Patronate and Patronage in Early and Classical Islam, Leiden / Boston: Brill 2005
Zübeyde Güneş Yağcı / Mustafa Akkaya (Hgg.): Kırım Kazaskeri Buyurdu. 34 Numaralı Kırım Sicili - Değerlendirme ve Transkripsiyon [The Chief Judge of Crimea Has Ordered: The Court Register of Crimea, No. 34 - Analysis and Transcription], Istanbul: Gece 2021
Tim Winter (ed.): The Cambridge Companion to Classical Islamic Theology, Cambridge: Cambridge University Press 2008
Mathieu Eychenne: Liens personnels, clientélisme et réseaux de pouvoir dans le sultanat mamelouk (milieu XIIIe - fin XIVe siècles), Beyrouth / Damas: Presses de l'Ifpo 2013
Yahya M. Michot: Ibn Tamiyya. Against Extremisms, Paris: Editions Albouraq 2012
Bernadette Martel-Thoumian: Délinquance et ordre social. L'état mamlouk syro-égyptien face au crime à la fin du IXe-XVe siècle, Pessac: Ausonius Editions 2012
In der Mamlūken-Zeit (1250-1517) erlebte die islamische Geistesgeschichte eine aktive und produktive Phase, deren Einflüsse bis in das zeitgenössische arabisch-islamische Denken deutlich spürbar sind. Neben der Weiterentwicklung der islamischen Jurisprudenz, Theologie und Mystik erhielt auch die Geschichtsschreibung mit Abu Zaid ʿAbd ar-Raḥmān Ibn Moḥammad Ibn Ḫaldūn (geb. 1332) einen neuen Impuls. Ibn Ḫaldūns Werk genießt in der heutigen arabischsprachigen Forschung hohe Aufmerksamkeit, die sich in der Zahl der ihm und seiner Chronik gewidmeten Dissertationen und Forschungsarbeiten widerspiegelt. Arabische Intellektuelle wie Moḥammad ʿAzīz Laḥbābī (1922-1993) und Moḥammad ʿĀbed al-Ǧābirī (1936-2010) sehen in Ibn Ḫaldūns Geschichtsphilosophie gar eine erkenntnistheoretische Wende, mit der Muslime ihre eigene Geschichte historisch und rational neu rekonstruieren können. Westliche Forscher wie Guglielmo Forroro (1871-1942), Ludwig Gumplowicz (1838-1909), Erwin Rosenthal (1904-1991) und Annemarie Schimmel (1922-2003) bezeichneten Ibn Ḫaldūn hingegen eher als der Begründer einer arabischen Soziologie.
Zainab Maḥmūd al-Ḫudairī beschäftigt sich in ihrer Studie, die unter dem Titel Falsafat at-tārīḫ ʿinda Ibn Ḫaldūn ("Ibn Ḫaldūns Geschichtsphilosophie") erschienen ist, mit Ibn Ḫaldūns Geschichtsphilosophie als Ausdruck eines aufgeklärten Geschichtsbewusstseins. Sie geht letzten Endes der Frage nach, wie Ibn Ḫaldūns Ansätze mit Hilfe moderner Theorien gelesen werden können, ohne den historischen Kontext zu missachten.
Das vorliegende Buch besteht aus 6 Kapiteln: (1) Ibn Ḫaldūns Leben und Wirken; (2) Ibn Ḫaldūn und sein Verständnis von der Entwicklung der Geschichte; (3) Ibn Ḫaldūns Wirtschaftsverständnis; (4) die Bedeutung der Wirtschaft für die Interpretation der Geschichte; (5) die Stammesbindung und die Entwicklung der Geschichtsphilosophie zur politischen Philosophie, und (6) Ibn Ḫaldūns Staatslehre.
Nachdem al-Ḫudairī Ibn Ḫaldūns Persönlichkeit und sein Schaffen in Form einer ausführlichen Biographie dargestellt hat, widmet sie sich im Rahmen des zweiten Kapitels seiner Geschichtsphilosophie. Dabei geht sie in einem zweistufigen Analyseverfahren der Frage nach, welche logischen Grundlagen und Methoden sich bei Ibn Ḫaldūns kritischem und rationalem Umgang mit der Vergangenheit erkennen lassen. Zunächst zeigt die Autorin auf, wie es ihm gelingt, mit Hilfe der Methode der "ṭabāʾiʿ al-ʿumrān" ("die Eigenschaften der Gesellschaften") nicht nur wissenschaftliche Distanz zu den überlieferten Geschichtswerken zu gewinnen, sondern auch mit der traditionellen Geschichtsschreibung epistemologisch zu brechen. Anschließend erläutert sie den methodischen Unterschied zwischen Ibn Ḫaldūns soziologischer Methode der "al-ʿumrān al-bašarī", die in eine "ländliche Gesellschaft" (ʿumrān badawī) und eine "zivile Gesellschaft" (ʿumrān ḥaḍārī) zerfallen, und der traditionellen ḥadīṯ-Methode der "Überprüfung der ḥadīṯ-Erzähler" (al-ǧarḥ wa at-taʿdīl). Auf der Basis einer gut strukturierten Argumentationslinie kommt al-Ḫudairī zu dem Ergebnis, dass der Unterschied zwischen den oben genannten Methoden darin besteht, dass Ibn Ḫaldūn die Geschichte als "ein Lebewesen" betrachtete, dessen Entwicklung von nachvollziehbaren Fakten und der Nachweisbarkeit rationaler Gesetzmäßigkeiten abhänge, während die traditionellen muslimischen Historiker die Wahrheit des geschichtlichen Geschehens an der Glaubwürdigkeit der ḥadīṯ-Trandenten gemessen hätten.
Im dritten Kapitel stützt sich die Autorin auf den im zweiten Teil skizzierten theoretischen Rahmen, um den evolutionären Charakter der Geschichtsphilosophie Ibn Ḫaldūns unter Beweis zu stellen. Damit zielt sie darauf ab, Ibn Ḫaldūn als Vorreiter einer Gesellschaftstheorie zu präsentieren, die auf dem Darwinschen Naturprinzip und dem marxistischen dialektischen Materialismus basiert. Al-Ḫudairī exemplifiziert Ibn Ḫaldūns Geschichtsphilosophie anhand seiner Lehre vom Staat (naẓarīyat ad-dawla), dessen Formierung sich - al-Ḫudairīs Angaben nach - an der geschichtsphilosophischen Konzeption des historischen Materialismus orientiere. Hierzu entwickelt die Verfasserin einen analytischen Zugang, der sich im arabischen Raum als weiterführend erwiesen hat. Dabei hebt al-Ḫudairī drei Felder hervor, die Ibn Ḫaldūns rationales Geschichtsbewusstsein ausgezeichnet haben sollen: der ökonomische Faktor, das Naturgesetz und der religiöse Faktor.
Der nun folgende Abschnitt ist daher konsequenterweise der Frage gewidmet, warum Ibn Ḫaldūn in seiner Geschichtsphilosophie gerade die Wirtschaft zum Erklärungsprinzip historischer Abläufe gewählt hat. Allerdings betrachtet die Autorin Wirtschaft und Materie, die eigentlich zwei grundverschiedene Elemente sind, als homogen. Sie begründet die Homogenität dieser zwei Elemente damit, dass Wirtschaft in Ibn Ḫaldūns geschichtsphilosophischer Auffassung zur Befriedigung der Materie des Leibes diene. Für die Autorin reicht dieser Argumentationsstrang offenbar aus, um den historischen Materialismus in Ibn Ḫaldūns Geschichtsphilosophie unter Beweis zu stellen.
Im fünften Kapitel befasst sich die Verfasserin mit Ibn Ḫaldūns Konzept der Stammesbindung (al-ʿaṣabīya) und seiner Bedeutung für Gesellschaftsformierungen und -entwicklungen. Hierzu gibt al-Ḫudairī an, dass die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stamm in Ibn Ḫaldūns Staatslehre das politische Bewusstsein der Menschen in den ländlichen Gebieten bestimme, da hier die ʿaṣabīya die Triebfeder der Politik darstelle. Die Autorin weist nach, dass die Stammesbindung einen festen Bestandteil der Geschichtsphilosophie Ibn Ḫaldūns bildet.
Das abschließende Kapitel ist Ibn Ḫaldūns politischer Philosophie gewidmet, die in ihrem Kern philosophische Reflexionen über die Entwicklung des islamischen Staates, seine unterschiedlichen Institutionen und eine Herrschaftstypologie beinhaltet. Ibn Ḫaldūn skizziert diese in seiner bekannten Prolegomena (al-Muqaddima), die al-Ḫudairī als Teil der politischen Philosophie Ibn Ḫaldūns betrachtet. In diesem Zusammenhang untersucht die Autorin Ibn Ḫaldūns Staatslehre, in der sie insgesamt fünf Entwicklungsphasen erkennen will: Zunächst wird ein Staat innerhalb eines Stammes gegründet (Gründungsphase). Danach wird die Herrschaft dieses Staates auf benachbarte wohlhabende Gebiete erweitert. In dieser Phase wird die Herrschaft nicht mehr mit Hilfe der Zugehörigkeit zum Stamm, sondern mit Hilfe despotischer Königsherrschaft und wirtschaftlicher Privilegien legitimiert (Monopolisierung der Herrschaft). Danach tritt der stabile Staat in eine Phase der Stagnation, in welcher der Staat von einer nicht-produktiven Wirtschaft (Rentierwirtschaft) lebt. In der vierten Phase tritt der stagnierende Staat in eine Phase der Schwäche, die abschließend (5. Phase) von einer Stamm-orientierten Dynastie genutzt wird, um den "kranken Staat" zu stürzen. Mit dem Sturz des "kranken Staates" und der Gründung einer neuen Herrschaftsdynastie wird eine Spiraldynamik (ḥaraka ḥalazūnīya) erzeugt, die den Dreh-und Angelpunkt der Staatslehre Ibn Ḫaldūns darstellt.
Insgesamt ist es der Autorin trotz ihrer marxistischen Terminologie einigermaßen gelungen, die theoretischen und praktischen Aspekte der Geschichtsphilosophie Ibn Ḫaldūns auf knappe Art und Weise zu beschreiben. Dieses Buch stellt aufgrund seines durchaus wissenschaftlichen Charakters ein gutes Beispiel für die arabischsprachige Forschung über Ibn Ḫaldūns Geschichtsphilosophie dar.
Abdelkader Al Ghouz