Christian Ernst (Hg.): Geschichte im Dialog? "DDR-Zeitzeugen" in Geschichtskultur und Bildungspraxis, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014, 314 S., ISBN 978-3-89974987-8, EUR 24,80
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Der Sammelband stellt Ergebnisse eines in den Jahren 2010 und 2012 durchgeführten "Praxisforschungsprojektes" zu dem Thema "Zeitzeugen zur DDR-Geschichte in der außerschulischen Bildung" dar. An dem von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten und vom Verein Zeitpfeil getragenen Projekt wirkten außerdem das Bildungswerk der Humanistischen Union Nordrhein-Westfalen, das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, der Politische Arbeitskreis Schulen und der Lehrstuhl für Geschichtsdidaktik der Universität Potsdam mit. Ergebnisse wurden zuerst im Februar 2013 im Rahmen der Tagung "Opfer, Täter, Jedermann? 'DDR-Zeitzeugen' im Spannungsfeld von Historisierung, Aufarbeitung und Geschichtsvermittlung" in Potsdam und wenig später im März 2013 im Rahmen der Tagung "Konformismus und Nonkonformismus im Alltag der DDR" in Bonn vorgestellt. Zu der Potsdamer Tagung steht im Internet auch eine multimediale Dokumentation zur Verfügung (http://www.arbeit-mit-zeitzeugen.org/tagungsdoku).
Ausgangspunkt des Projektes war die Beobachtung, dass in der außerschulischen Bildungsarbeit zur DDR-Geschichte, wie sie in Gedenkstätten, Museen und medialen Inszenierungen stattfindet, häufig mit Zeitzeugen gearbeitet wird. Dabei, so Christian Ernst in der Einleitung, würden aber Zeitzeugen oft "auf die Rolle eines Opfers und Beglaubigers" des Gewalt- und Unrechtsregimes eingeengt, wodurch "Spannungen zwischen lebens- und alltagsgeschichtlicher Erzählung einerseits und der intentionalen Vermittlung von Geschichts- und damit auch Gegenwartsbildung andererseits" (12) entstünden. Im Kern geht es also um das Problem, dass Zeitzeugen in der historisch-politischen Bildung zum Thema DDR gerne wegen des emotionalen und authentischen Eindrucks, der von ihnen ausgeht, eingesetzt werden. Ihre Schicksale sollen unmittelbar den verbrecherischen und inhumanen (theoretisch gesprochen: den totalitären) Charakter der SED-Herrschaft verdeutlichen, eine Intention, die von den Zeitzeugen meistens sehr entschieden mitgetragen wird. Diese Art von Erinnerung liegt aber bekanntermaßen längst nicht bei allen ehemaligen Bürgern der DDR vor. Neben solchem "Diktaturgedächtnis" sind - einer Unterscheidung folgend, die Martin Sabrow in seinem Beitrag vorstellt und die an anderen Stellen zustimmend wieder aufgegriffen wird - zumindest auch noch das "Fortschrittsgedächtnis" und das "Arrangementgedächtnis" anzutreffen, also Erinnerungsformen, die zur untergegangenen DDR eine versöhnlichere Haltung einnehmen, weil man sich noch irgendwie mit ihr identifiziert oder weil man meint, man habe in ihr trotz aller Repression noch einigermaßen gut leben können. Nicht zufällig wird in vielen Beiträgen des Bandes auch auf den Beutelsbacher Konsens von 1976 und seine Grundsätze der politischen Bildung (Überwältigungsverbot, Kontroversität und Schülerorientierung) Bezug genommen. Wird doch sicherlich gegen diese Grundsätze verstoßen, wo den Zuhörern von Zeitzeugen nicht die Möglichkeit geboten wird, deren Aussagen zu hinterfragen, zu kontextualisieren und zu gewichten. Vor diesem Hintergrund erhebt der Band den Anspruch, "wissenschaftliche Analyse und praktische Anregungen für die Bildungspraxis zu verbinden, um Anregungen für eine geschichtskulturell und pädagogisch reflektierte Arbeit mit Zeitzeugen zur DDR- und (deutsch-)deutschen Geschichte nach 1945 zu geben" (13).
Die gut 20 Aufsätze, die im Rahmen dieser Rezension nicht alle explizit berücksichtigt werden können, stammen deshalb sowohl von Wissenschaftlern als auch von Mitarbeitern außerschulischer Bildungseinrichtungen, Gedenkstätten und Museen. Der erste Teil des Bandes versammelt unter der Überschrift "Wissenschaft und Geschichtskultur" fünf Beiträge. In ihnen werden einerseits konkurrierende Narrative sowohl der DDR-Forschung als auch der gesellschaftlichen Erinnerung an die DDR vorgestellt. Andererseits wird nachgezeichnet, unter welchen besonderen historischen Umständen "Zeitzeugen" zu einem besonderen (medialen) Typus der Erinnerung wurden, der dann auch für das öffentliche Erinnern an die DDR übernommen wurde. Der zweite, umfangreichere Teil des Bandes steht unter der Überschrift "Geschichtskultur und Bildungspraxis" und ist in die Unterkapitel "Zeitzeugen und Biografien in der politisch-historischen Bildung", "'DDR'-Zeitzeugen in Museen und Gedenkstätten", "'DDR-Zeitzeugen' im Internet" und "Anregungen für die Bildungspraxis" gegliedert. Dieser Teil enthält auch Interviews mit zwei Mitarbeitern bei politischen Bildungseinrichtungen (Martin Klähn und Bernd Wittich), die in der DDR aufwuchsen und sich dort oppositionell engagierten. In den Gesprächen reflektieren sie insbesondere ihre schwierige Doppelrolle als Zeitzeugen und als politische Bildner. Grenzen der Arbeit mit Zeitzeugen werden besonders in den Beiträgen von Dorothee Wierling und Sabine Moller betont. Wierling hebt sehr deutlich den Unterschied zwischen Oral History und Zeitzeugenbefragungen hervor und weist darauf hin, wie schwierig es für unmittelbare Zuhörer ist, Zeitzeugen gegenüber "Distanz, Kritik und Zweifel" (103) zu entwickeln und zu äußern. Aus dieser Perspektive erscheint es ihr für Bildungszwecke fast angebrachter, auf das direkte Gespräch zu verzichten und mit Aufzeichnungen zu arbeiten. Der Tendenz nach schließt sich auch Sabine Moller in ihrem Beitrag dieser Position an, indem sie hervorhebt, dass das Lernarrangement, in das Interviews mit Zeitzeugen eingebettet sein sollten, auf die Förderung von historischer Methodenkompetenz ausgerichtet und multiperspektivisch angelegt sein sollte.
Behandelt werden auch Fragen der kulturellen Dominanz westdeutscher vor ostdeutschen Narrativen, der Moderation von Gesprächen mit Zeitzeugen vor einer Lerngruppe sowie des Umgangs mit traumatisierten Zeitzeugen. An einigen Stellen enthält der Band zudem praxisorientierte, dem Thema DDR aber nur peripher verbundene Handreichungen und Hinweise dazu, wie Zeitzeugenbefragungen mit Lerngruppen konkret durchgeführt werden können bzw. sollten oder wie Online-Zeitzeugenberichte mittels der WebQuest-Methode für das historische Lernen genutzt werden können.
Der Band bietet - erwartungsgemäß - keine definitive Lösung des Problems, wie die Spannung und Diskrepanz zwischen der Erinnerung der politischen Gegner und Opfer der SED-Herrschaft und den vielfältigen anderen Erinnerungen an die DDR überwunden werden kann. Er verdeutlicht aber das wachsende Bewusstsein, dass auch in Bezug auf die DDR-Geschichte die grundsätzlichen geschichtsdidaktischen Prinzipien der Multiperspektivität und Kontroversität beachtet werden sollten - ohne dadurch die Beurteilung der DDR und des Lebens in ihr der Beliebigkeit anheimzustellen. Dass hinsichtlich der Art und des Umfangs der Umsetzung dieses Anspruches erhebliche Differenzen bestehen, wird an vielen Stellen deutlich, vor allem aber in der Zusammenfassung der Abschlussdiskussion (301f.).
Gerhard Henke-Bockschatz