Klaus Jan Philipp (Hg.): Rolf Gutbrod. Bauen in den Boomjahren der 1960er (= Schriften des Süddeutschen Archivs für Architektur und Ingenieurbau (saai); Bd. 2), Salzburg: Müry Salzmann 2011, 148 S., ISBN 978-3-99014-035-2, EUR 29,00
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Aus Anlass des 100. Geburtstags Rolf Gutbrods am 13. September 2010 veranstaltete das Institut für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart zusammen mit dem Süddeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau in Karlsruhe (saai) unter der Ägide von Klaus Jan Philipp eine Ausstellung und ein Kolloquium zu Ehren diesen großen deutschen Architekten der 1960er-Jahre. Die vorliegende Publikation ist die Zusammenfassung der Kolloquiumsbeiträge und ein weiterer Schritt in der Werkaufarbeitung Gutbrods, über den erstaunlicherweise eine grundlegende Werkmonografie immer noch nicht vorhanden ist - obwohl der Nachlass Gutbrods im saai vorliegt.
Klaus Jan Philipp betont im Vorwort die Dringlichkeit der weiteren Aufarbeitung der Architektur Gutbrods, da allgemein auf den Bauten der 1960er- und 70er-Jahre ein "starker Veränderungsdruck" (7) lastet, und man bei den notwendigen Sanierungs- und Restaurierungsmaßnahmen unbedingt das Wissen über die Voraussetzungen und Bedingungen des Bauens dieser Zeit sowie die jeweiligen Spezifika des architektonischen Ansatzes mitbringen sollte. Auch heute noch werden Gutbrods bekannteste Bauten, wie das Loba-Haus und die Liederhalle in Stuttgart, die Deutsche Botschaft in Wien oder die Universitätsgebäude in Köln unterschätzt, obwohl sie teilweise inzwischen als Denkmalbauten zertifiziert sind.
Ein sehr persönlich formulierter Festvortrag von Werner Durth (11-31) als langjährigem Freund Gutbrods leitet die Kolloquiumsbeiträge ein und verdeutlicht, dass Rolf Gutbrod u.a. durch seine anthroposophische Schulbildung und das musisch orientierte großbürgerliche Elternhaus in Stuttgart den Weg zu einem organisch-spielerischen Architekturverständnis fand, wie es z.B. die Stuttgarter Liederhalle mit ihrer grandiosen Farb-, Form- und Material-Klaviatur aufweist. Günter Behnisch, als ehemaliger Mitarbeiter im Büro Gutbrods kennzeichnete seinen Lehrer und sein Vorbild später folgendermaßen: "Er hat immer auf dem hohen Seil getanzt" (20; siehe hierzu auch den Beitrag von Elisabeth Spieker, 122-139). Das abschließende Foto des Festvortrags zeigt Werner Durth zusammen mit dem großen Architekten und Ingenieur Frei Otto auf dem Podium. Otto hatte als damaliger Leiter des Stuttgarter Instituts für Leichte Flächentragwerke (IL) beim Bau des Deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Montréal 1967 eng mit Gutbrod zusammen gearbeitet und teilte mit ihm einen organisch-bionischen Architekturansatz (31; hierzu auch der Beitrag von Christiane Weber, 69-83).
Adrian von Buttlar und Roman Hillmann umreißen in ihren Beiträgen allgemein die Situation der Nachkriegsmoderne einschließlich der 1960er-Jahre in Deutschland. Von Buttlar fordert hier mit Recht einen "Minderheitenschutz" für die Nachkriegsmoderne, damit solche Fehler wie der Abriss des Schimmelpfennighauses von Rolf Gutbrod am Breitscheidplatz in Berlin 2009 nicht mehr passieren können (35, 45). Als zentrale Forschungsaufgabe der Geisteswissenschaftler sieht er die "Inwertsetzung" des Nachkriegsgebäudes, d.h. seine "baukünstlerische, kulturhistorische, städtebauliche und soziale Evaluierung" (45). Hillmann arbeitet für die westdeutsche Architektur der 1960er-Jahre das Merkmal der "Dualität zwischen Ordnung und Lebendigkeit" (51) heraus und versucht auf eine etwas umständliche Art und Weise eine Differenzierung in eine "Erste" (50er) und "Zweite Nachkriegsmoderne" (60er) mit "Übergangs-, Hoch- und Endphase" zu konstruieren (52). Eine Bezugnahme bzw. Einordnung der Architektur Gutbrods in dieses "Epochenschema" bleibt allerdings aus.
Die drei Beiträge zu jeweils einem Bauprojekt Gutbrods von Klaus Jan Philipp (Baden-Württembergische Bank, Stuttgart), Ulrich Krings (Universitätsbauten, Köln) und Bernd Gildehaus (Deutsche Botschaft, Wien) sind hier zum Kennenlernen und Verständnis des Architekten wesentlich hilfreicher. Philipp stellt die Baden-Württembergische Bank auf dem Kleinen Schlossplatz in Stuttgart als ein Bauwerk Gutbrods heraus, das zwar städtebaulich nach wie vor einen "Störenfried im Blockrand" darstellt, "wie ihn nur die 1960er Jahre hervorbringen konnten" (98), architektonisch jedoch mit seiner Fassadengestaltung eines Curtain Walls in der Struktur des "Tanzenden Rasters" (89) und plastisch gestalteten Innenräumen wie dem Faltdach und -gewölbe der Schalterhalle (94) herausragend ist. Positiv zu bewerten sei auch der Sanierungsumbau von 1997 bis 2001, der die ursprüngliche Ästhetik und Struktur des Bankgebäudes erhalten konnte. Ein weiteres Umbauprojekt eines Gutbrod-Baus, der Deutschen Botschaft in Wien, wird von Bernd Gildehaus als dem federführenden Architekten der Maßnahme, die ab 2007 läuft, erläutert. Für den umbauenden Architekten bedeutet es ein "Gutbrod-Weiterdenken", denn das Botschaftsgebäude von 1964 hält den energetischen Anforderungen von heute nicht mehr stand (115). Hier bedarf es des Wissens um den Gutbrodschen Stil und dann aber auch viel Kompromissbereitschaft, um zwischen den aktuellen bautechnischen und -denkmalrechtlichen Richtlinien zu lavieren (115).
Auch das architektonisch qualitätvolle Ensemble der Kölner Universität mit der Universitätsbibliothek (1964-67) und dem Hörsaalgebäude (1968) von Rolf Gutbrod ist endlich zumindest in das Blickfeld der Denkmalpflege gerückt, und auch das Universitätsbauamt hat inzwischen den Wert erkannt und seit 2010 ein Sanierungskonzept erarbeiten lassen. Ulrich Krings spricht in seinem Beitrag von einem "bedauernswerten Zustand" der Gebäude mit ihren Außenterrassen, Platz- und Gartenanlagen (111). Leider hat sich aktuell bis 2014 die Situation noch nicht wesentlich verbessert: eine Grundsanierung der Betonwände innen und außen an den Gebäuden hat wohl stattgefunden und teilweise wurden die Außenbereiche vom größten Unrat befreit. Nach wie vor funktioniert aber das Konzept Gutbrods von einer Campusbebauung mit vielen Freiflächen im Außenbereich zum Flanieren und Pausieren der Studierenden überhaupt nicht, da die Plätze, Gartenanlagen und Terrassen dreckig und zugestellt sind. Stattdessen wurde flankierend ein neues Seminargebäude von Paul Böhm errichtet, das zwar den Baustil Gutbrods adaptiert, die Problematik der ungepflegten Gutbrodschen Gebäude jedoch nicht aufheben kann!
Letzteres Beispiel möge verdeutlichen, wie wichtig es ist, weiterhin auf den besonderen Wert der Nachkriegsarchitektur und der 1960er-Architektur hinzuweisen und ihr mithilfe von Kolloquien und deren Publikation (wie vorliegend) ein Sprachrohr und eine Diskussionsplattform zu verleihen. Also, besten Dank für die Veröffentlichung zu Rolf Gutbrod - vielleicht ist diese ja auch der Auslöser für die noch ausstehende Erstellung einer vollständigen Werkmonografie.
Stefanie Lieb