Mariz Tadros: The Muslim Brotherhood in Contemporary Egypt. Democracy Redefined or Confined (= Durham Modern Middle East and Islamic World Series; 25), London / New York: Routledge 2012, XII + 195 S., ISBN 978-0-415-46596-0, GBP 90,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Gunnar Hinck: Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre, Berlin: Rotbuch 2012
Lutz Maeke: DDR und PLO. Die Palästinapolitik des SED-Staates, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Nagehan Tokdoğan: Yeni Osmanlιcιlιk: Hιnç, Nostalji, Narsisizm. [Neo-Ottomanism: Resentment, Nostalgia, Narcissism], Istanbul: Iletişim Yayιnlarι 2018
Wolfram Drews / Christian Scholl (Hgg.): Transkulturelle Verflechtungsprozesse in der Vormoderne, Berlin: De Gruyter 2016
Annette Katzer: Araber in deutschen Augen. Das Araberbild der Deutschen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008
Ron Sela: The Legendary Biographies of Tamerlane. Islam and Heroic Apocrypha in Central Asia, Cambridge: Cambridge University Press 2011
Christopher Phillips: Everyday Arab Identity. The Daily reproduction of the Arab World, London / New York: Routledge 2013
Seit 2011 befindet sich der Nahe Osten, ausgelöst durch den sogenannten 'Arabischen Frühling', in einem schwierigen Transformationsprozeß. In diesem Zusammenhang befasst sich Mariz Tadros in The Muslim Brotherhood in Contemporary Egypt mit der Muslimbruderschaft als einem der zeitweise wichtigsten Akteure der ägyptischen Entwicklung. Wie haben sich die neugewonnene Freiheit und die Aufhebung ihres jahrelangen Verbotes auf die innere Struktur der Muslimbrüder ausgewirkt? Welche Elemente beinhaltet ihr Konzept einer Scharia-gemäßen Politik, und wird es sich in der realpolitischen Machtarena als umsetzbar erweisen?
Konkret stellt die Autorin in ihrer Einleitung drei Arbeitshypothesen auf: 1. da der Zwang zum Schutz vor dem Regime fehlt, wird sich die innere Struktur der Muslimbruderschaft demokratisieren; 2. die Einführung von Demokratie im Nahen Osten verlangt die volle Integration moderater Islamisten in der politischen Arena; 3. Es ist unklar, ob die doppeldeutige Haltung islamistischer Bewegungen zu Themen wie Scharia, Zivilrecht oder Minderheiten zu Demokratie oder eher zu Autoritarismus führt.
Um diese Thesen zu prüfen, untersucht Tadros die politische Theorie und Praxis der Muslimbruderschaft auf der Basis ihrer Mitgliederpyramide. Dabei kann sie sich auf einen guten Forschungsstand und eine ausreichende Quellenbasis sowohl zur allgemeinen Entwicklung der Bewegung als auch ihrer Anführer stützen. Beispielhaft genannt seien hier die Sendschreiben von Ḥasan al-Bannā ("Mağmūʿ rasāʾil al-Imām al-Bannā", hg. von, Amīn ʿAbd-al-ʿAzīz, Ismāʿīl Turkī und, Muḥammad Fatḥī, Kairo 2006), Zakarīyā Sulaimān Bayyūmīs "Al-Iḫwān al-Muslimūn wa-ʾl-Ğamāʿāt al-Islāmīya fī ʾl-ḥayāt as-siyāsīya al-miṣrīya: 1928-1948" (Kairo 1979) oder Richard P. Mitchells "The Society of the Muslim Brothers" (Oxford 1969). Über diese allgemeinen Werke und Textsammlungen hinaus legt Tadros ihrer Analyse weitere Schriften der Muslimbruderschaft, Pressemitteilungen sowie Fatwas und parlamentarische Stellungnahmen zugrunde.
Einleitend liefert Tadros eine Selbstdefinition der Muslimbruderschaft sowie einen Überblick über ihre Entwicklung unter der Regierung von Husni Mubarak (reg. 1981-2011). Das folgende erste Kapitel setzt sich mit den Hintergründen der Revolution 2011 sowie den daran beteiligten Gruppen auseinander. Im Wesentlichen arbeitet die Autorin die Ursachen für den Zusammenbruch des Regimes und das Scheitern der geplanten Amtsübergabe an Gamal Mubarak heraus. Es folgt die Analyse der Entwicklung vom Ausbruch der Revolution (25.1.2011) bis zum "Freitag der Scharia" (29.7.2011). Tadros stellt zunächst heraus, dass die Muslimbrüder bis zum Sturz Mubaraks alle ideologischen Differenzen als Zeichen des Patriotismus abgelegt haben, um mit der säkularen Opposition kooperieren zu können. Dieses Bündnis war für die Muslimbruderschaft nichts weiter als Mittel zum Zweck und hatte nur bis zum Ende des alten Regimes Bestand. Im Ergebnis weist das Kapitel nach, dass sich die Muslimbrüder bei ihrer Zusammenarbeit mit anderen Gruppen aus dem liberalen Spektrum stets an dem größtmöglichen Nutzen für die eigene Position orientierten. Nachdem sich die gesamt politische Lage Ende Juli 2011 stabilisiert hatte, rückten die ideologischen Interessen in den Vordergrund, was letzten Endes eine Anlehnung an die Salafisten begünstigte.
Kapitel drei und vier setzen sich mit der Frage auseinander, wie das islamisch basierte Konzept eines Zivilstaates bei der Muslimbruderschaft aussieht. Konkret geht es um die Beteiligung der Bürger an der islamischen Demokratie und um die Frage, welchen politischen Pluralismus dieser Rahmen zulässt. Dabei wird deutlich, dass es dauerhaft Spannungen zwischen Theorie und Praxis in den Staatsvorstellungen der Muslimbrüder gegeben hat. Mit Beginn der 1990er Jahre änderte sich allerdings die gesamte politische Debatte und die Trennung säkular-islamisch wich der Vorstellung eines zivilen Staates unter Einbezug der Religion - ohne gleich ein iranisches System entstehen zu lassen. So erklärte der mit der ägyptischen Muslimbruderschaft sympathisierende al-Qaraḍāwī (geb. 1926), dass der islamische Staat das Recht des Volkes vorsieht, seinen Herrscher nicht nur zu wählen und zu beraten, sondern auch zur Verantwortung zu ziehen, falls er göttliches Recht verletzt (S. 54). Als Hauptgegensatz zwischen der westlichen Idee eines demokratischen Parlaments und dem šūrā-Rat stellt die Autorin heraus, dass ein Konsens der šūrā nicht bindend für den Herrscher ist. Im Hinblick auf politischen Pluralismus ergibt sich, dass bei einer islamischen Ausrichtung des Staates alle politischen Parteien entsprechend islamisch religiös fundiert sein müssen.
Im fünften Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit dem Verhältnis zwischen den Kopten und der Muslimbruderschaft. Sie hinterfragt, ob das Mubarak-Regime für die Friktion zwischen den beiden Gruppen verantwortlich war und ob es Änderungen seit seinem Sturz gab. Eine Untersuchung der Entwicklung vom Beginn der Muslimbruderschaft unter der Führung von Ḥasan al-Bannā (1928-1941) bis zum gegenwärtigen Vorsitzenden Muḥammad Badīʿ (seit 2010) zeigt, dass im Allgemeinen die Religion bestimmender Faktor für Divergenzen ist, nicht die gemeinsame Nationalität als Ägypter. Eine Ausnahme sieht Tadros nur während der Frühphase der Revolution 2011. Dieses Grundverständnis wird im sechsten Kapitel über die Grundlagen einer islamischen Staatsbürgerschaft vertieft. Dabei kommt Tadros zu dem Schluss, dass das Staatskonzept der Muslimbruderschaft entgegen ihrem bekannten Slogan "They have the same rights as us and have the same duties as us" (99) keineswegs volle Rechte für Angehörige anderer Religionsgruppen beinhaltet. Vielmehr weist die Autorin anhand des Parteiprogramms der Ḥizb al-ḥurrīya wa-l-ʿadāla ("Freiheits- und Gerechtigkeitspartei") - dem politischen Organ der Muslimbrüder - nach, dass diese die islamische Umma als gemeinsamen Idendifikationsfaktor aller Ägypter ansehen. Entsprechend sind Kopten Verräter, wenn sie die islamische Scharia als Teil der Staatsideologie ablehnen. Diese Vorstellung vom Bürger als islamischem Nationalist sichert nicht, dass alle Bürger in einem neuen Ägypten volle Rechte genießen, sie stellt auch den religiösen Pluralismus in Frage.
Die beiden abschließenden Kapitel des zu besprechenden Buches befassen sich mit den Muslimschwestern und dem generellen Umgang der Muslimbruderschaft mit dem Thema Gender. Zunächst skizziert Tadros das historische Verhältnis von Muslimschwestern zur Muslimbruderschaft in drei Etappen: in der Frühphase der Organisation bis 1954, von 1954 bis 2010 und seit dem Sturz von Mubarak. Dabei betont die Autorin, dass Frauen immer als eine Untergruppe der Gesamtorganisation angesehen wurden und die Muslimschwestern keine unabhängige Bewegung sind. Auch verdeutlicht Tadros, dass die Muslimbruderschaft bei ihren weiblichen Anhängern die Rolle der Familie in den Vordergrund stellt und politische Aktivitäten - z.B. die Kandidatur für das Parlament - nur mit Zustimmung des Ehemannes bzw. der männlichen Familienmitgliedern gestattet. Vor diesem Hintergrund geht das achte Kapitel der Frage nach, ob es in dieser traditionellen Einstellung zum Thema Gender Reformen im Denken der Muslimbruderschaft gegeben hat. Mit Analysen offizieller Stellungnahmen, etwa von Ḥasan al-Bannā und al-Qaraḍāwī, kann Tadros zeigen, dass die Muslimbruderschaft nach wie vor eine konservative und traditionelle Haltung bevorzugt. So lehnt sie beispielsweise - in Anlehnung an al-Bannā - ein Studium jeglicher Art für Frauen ab, da diese füher oder später ihre Rolle als Hausfrau und Mutter einnehmen müssen und hierfür nur Allgemeinbildung nötig sei (139).
In ihrem Fazit stellt Tadros fest, dass es 2011 aus ideologischer Sicht kaum Unterschiede zwischen Salafisten und Muslimbrüdern gegeben hat. In diesem Zusammenhang weist die Autorin darauf hin, dass Äußerungen in der Öffentlichkeit häufig nicht die innere Linie der Muslimbruderschaft widerspiegelten, so dass ein verfälschter Eindruck größerer Liberalität seitens der Muslimbruderschaft entstand.
The Muslim Brotherhood in Contemporary Egypt stellt einen Versuch da, die aktuelle politische Praxis der Muslimbruderschaft (2011) vor dem historischen Hintergrund sowie theoretischen Texten zu analysieren. Allerdings haben die politischen Ereignisse in Ägypten seit 2012 die Muslimbrüder überrollt und sie von der Position der Machthaber zu Mitgliedern einer terroristischen Vereinigung gemacht. Per Gerichtsbeschluss am 23. September 2013 wurde die Vereinigung verboten, und im Frühjahr 2014 kam es zu zwei Massenprozessen, in denen über 1000 Mitglieder, darunter auch Muḥammad Badīʿ, zum Tode verurteilt wurden.
Tonia Schüller