Kristine T. Utterback / Merrall Llewelyn Price (eds.): Jews in Medieval Christendom. "Slay Them Not" (= Études sur le Judaïsme Médiéval; Tome LX), Leiden / Boston: Brill 2013, VII + 348 S., ISBN 978-90-04-25043-7, EUR 125,00
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Der 2013 erschienene Sammelband geht im Wesentlichen zurück auf Vorträge, die im Jahre 2006 auf dem "Medieval Congress" in Leeds gehalten wurden. In dem um einige Aufsätze vermehrten, interdisziplinär ausgerichteten Band beschäftigen sich 17 Autoren aus historischer, kunsthistorischer, religionswissenschaftlicher, philosophischer, anglistischer und germanistischer Perspektive mit verschiedenen Aspekten jüdischen Lebens im mittelalterlichen Westeuropa respektive der Vorstellung, die Christen von Juden - mitunter lange nach dem Ende ihrer physischen Präsenz vor Ort - hatten oder haben sollten. Die einigende Klammer des Bandes soll, wie der Untertitel des Bandes andeutet, die für das christlich-jüdische Verhältnis im Mittelalter wegweisende Auslegung Augustins von Psalm 59,12 bilden. Diese Interpretation sei angeblich in sämtlichen Beiträgen "explizit oder implizit" präsent (4). Tatsächlich nimmt jedoch kaum einer der Beiträge - auch nicht implizit - Bezug auf die Vorstellungen des Kirchenvaters.
Im ersten Beitrag legt die Kunsthistorikerin Nancy Bishop auf Basis von immerhin fünf erhaltenen, um die Mitte des 9. Jahrhunderts in Metz angefertigten Elfenbeinskulpturen mit der Darstellung der Kreuzigungsszene dar, dass die "Synagoga" in der Ikonographie der Karolingerzeit noch nicht negativ besetzt war und wohl eher als "concordia veteris et novi testamenti" gesehen wurde (18). Judy Schaaf zeigt, dass der um 1380 im Mallorquiner Atelier des berühmten jüdischen Kartographen Cresques Abraham von Palma entstandene "Katalanische Atlas" von traditionellen antijüdischen Narrativen abwich, indem darin nicht die Gegensätze von Christentum und Judentum, sondern vielmehr ihre historischen Gemeinsamkeiten hervorgehoben wurden. In dem von Carlee A. Bradbury untersuchten, anlässlich der Hochzeit mit dem späteren König Heinrich IV. von England ebenfalls um 1380 angefertigten Stundenbuch Marias von Bohun erscheinen fast ein Jahrhundert nach der Vertreibung der Juden aus dem Angevinischen Reich in drei Zyklen marianischer Wunderdarstellungen karikierte Juden, die jeweils einen negativen Gegenpart zur Gottesmutter bilden.
Während die seit dem 13. Jahrhundert häufig in der Ikonographie auftretenden Karikaturen von Juden mit vermeintlich typischen äußerlichen Merkmalen bereits mehrmals Gegenstand von Untersuchungen waren, wendet sich Irven M. Resnick einem frühen Beispiel der expliziten Zuschreibung stigmatisierender äußerer Merkmale zu. Es handelt sich um die polemischen Angriffe des Archidiakons Arnulf von Séez auf den 1130 in schismatischer Wahl zum Papst erhobenen Petrus Pierleoni, Enkel eines konvertierten Juden. Arnulf unterstellte seinem Gegner nicht nur für Juden angeblich typische charakterliche Mängel, sondern auch entsprechend konnotierte äußerliche Merkmale.
Merrall L. Price kommt bei ihrer sowohl zeitlich als auch hinsichtlich der betroffenen Objekte undifferenzierten Untersuchung des Zusammenhangs zwischen "Antisemitismus" (gemeint ist wohl Antijudaismus) und der Vorstellung einer Kontamination von Sakralgegenständen und Körpern von Märtyrern durch Körpersekrete und Exkremente von Juden zu dem Ergebnis, dass die entsprechenden Narrative zwar ein "antisemitisches" Bild von Juden darböten, dies jedoch vor dem Hintergrund der Abwehr allgemeiner Bedrohungen von Glaubenslehren durch Außenstehende und der Festigung kirchlicher Doktrinen gesehen werden müsse.
Am Beispiel der Berichte Alberts von Aachen und Ekkehards von Aura zu den Kreuzzugsmassakern im Rheinland 1096 und darin geschilderter Formen von "Zorn" konstatiert Kate McGrath eine ambivalente Einstellung der beiden Autoren zu den Geschehnissen. Zwar seien beide den Juden nicht sonderlich zugeneigt gewesen, doch verurteilten sie die Übergriffe der Kreuzfahrer, die ihr eigentliches Ziel aus den Augen verloren hätten. Der Rezeption der Erzählung Josephus' von der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. in englischen historiographischen Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts und der daraus abgeleiteten Legitimation von Gewalt gegenüber Juden widmet sich Keren M. Kletter.
In seinem Beitrag über König Heinrich III. von England beleuchtet Robert C. Stacey dessen Verhalten bei Ritualmordbeschuldigungen gegenüber Juden und seine persönliche Fürsorge für jüdische Konvertiten unter der Leitfrage, inwiefern die geradezu desaströse Judenpolitik der Krone ab 1240 die persönliche Haltung des Königs gegenüber der religiösen Minderheit widerspiegelte. Eveline Brugger legt in ihrem Beitrag anschaulich dar, wie die österreichischen Herzöge in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts einerseits Judenverfolgungen nutzten, um ihre eigenen Herrschaftsansprüche zu untermauern, andererseits aber im Jahre 1349 ein Ausgreifen der sogenannten Pestpogrome auf Österreich eindämmen konnten. Nachdem mit der zunehmenden Bedeutung des christlichen Geldhandels die Städte nach 1350 größeren Einfluss auf die jüdischen Gemeinden gewonnen hatten, kam es schließlich im 15. Jahrhundert zu herrschaftlich initiierten Verfolgungen und Vertreibungen. Analoge Entwicklungen lassen sich im Rahmen der von Birgit Wiedl untersuchten Repräsentation von Juden in österreichischen Stadtrechten des 13. und 14. Jahrhunderts fassen. Für die Rechtsstellung der Juden in Österreich war das Privileg Herzog Friedrichs II. von 1244 grundlegend, so dass in den städtischen Satzungen bis um die Mitte des 14. Jahrhunderts nur ganz vereinzelt Ergänzungen oder Modifikationen auftauchen, während nach 1350 in den Stadtrechten vermehrt Artikel mit Judenbetreffen - durchwegs zugunsten der Städte - Aufnahme fanden. Kristine T. Utterback zeigt in ihrem Beitrag anhand einiger Beispiele auf, wie sich Juden im Königreich Aragon in der Zeit von etwa 1250 bis 1350 gegen Konversionsversuche zur Wehr setzten und darüber hinaus die "Rejudaisierung" zum Christentum übergetretener Glaubensbrüder förderten.
Zwei Fälle von Selbstmord junger jüdischer Männer aus Glaubenszweifeln in England gegen Ende des 12. Jahrhunderts bilden den Gegenstand der Untersuchung von Ephraim Shoham-Steiner. In den beiden völlig unterschiedlichen Quellentypen, einem jüdischen Rechtsgutachten und einem christlichen hagiographischen Text, mit ihren gänzlich anders gearteten Intentionen wird den beiden Opfern eine - zumindest zeitweise - geistige Verwirrtheit attestiert, die mithin sogar eine Interpretation des Selbstmords als Martyrium zuließ.
Im Fokus des Beitrags von Jennifer Hart Weed steht die Haltung Thomas' von Aquin zur Zwangskonversion von Juden. Dass Thomas derartigen Maßnahmen ablehnend gegenüberstand, ist aus seiner "Summa Theologiae" hinlänglich bekannt. Entgegen der bislang von der Forschung vertretenen Auffassung, Thomas habe die Rückkehr getaufter Juden zu ihrem angestammten Glauben grundsätzlich missbilligt, geht Hart Weed mit guten Gründen davon aus, dass dies ausschließlich für freiwillig zum Christentum übergetretene Juden galt.
Die Repräsentation von Juden in Dantes "Divina Comedia" behandelt der Beitrag von Jay Ruud. Dass sich erstaunlicherweise ausschließlich biblische Juden in Dantes Werk finden, interpretiert Ruud als bewusste Entscheidung des Autors, der unschlüssig über den göttlichen Plan bezüglich der nachbiblischen Juden gewesen sei. Der Mythologisierung des jüdischen Anderen sowie des Ritualmords in Chaucers "Erzählung der Priorin" und den weitreichenden Implikationen bis in die jüngste Vergangenheit widmet sich Barbara Stevenson. Eine "portable Jewishness" konstatiert Miriamne Ara Krummel in den "York Plays" des 14. Jahrhunderts, in denen biblischen Juden gemäß ihrer Bedeutung für den christlichen Glauben eine positive oder antijüdisch-negative Charakterisierung zugewiesen wurde. In den Theaterstücken jedoch Hinweise auf unbewältigte Traumata der christlichen Bevölkerung aufgrund der Ermordung der Yorker Juden im Jahre 1190 erkennen zu wollen, erscheint äußerst gewagt. Abschließend zeichnet Albrecht Classen ein differenziertes Bild der Darstellung von Juden in der christlichen Literatur des Mittelalters mit räumlichem Schwerpunkt auf dem Reichsgebiet. Im Übrigen handelt es sich bei dem Aufsatz um einen der wenigen Beiträge des Bandes, in denen auch einschlägige Literatur außerhalb des englischen Sprachraums rezipiert wird.
Auch wenn der thematisch weit gefasste Band aufgrund des Fehlens einer übergeordneten Fragestellung inhomogen erscheint, bieten die einzelnen Beiträge zumeist spezifische Einblicke in diverse Themenfelder zum mittelalterlichen Judentum in Westeuropa. Dass allerdings die Inhalte mehrerer Aufsätze bereits vor Erscheinen des Bandes anderweitig publiziert worden sind, mindert den Erkenntniswert des Bandes etwas. Zudem dürfte sich auch der geradezu prohibitiv hohe Preis von 125,00 Euro als nicht sonderlich verkaufsfördernd erweisen.
Jörg Müller