Lisa Dittrich: Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848-1914) (= Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit; Bd. 3), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 615 S., 26 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31023-6, EUR 84,99
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Mit allzu vermessener Anpreisungsprosa riskiert man, dass auch geneigte Leser skeptisch reagieren. Im vorliegenden Buch werde "erstmalig der europäische Charakter des Antiklerikalismus systematisch analysiert" (15), wiederholt Lisa Dittrich fortwährend (12, 39, 145, 482, 492, 494, 504). Hier stutzt der Leser, der den boomenden Antiklerikalismus in der Forschung der letzten Jahre verfolgt hat. Wurde das Thema bislang unsystematisch abgehandelt?
Schon 2010 analysierten Manuel Borutta Gemeinsamkeiten und Transfers des europäischen Antiklerikalismus anhand Italiens und Deutschlands und Timothy Verhoeven anhand Frankreichs und der USA. Zeitgleich initiierte Yvonne Maria Werner gar einen rund 25 Beteiligte umfassenden Forschungsverbund über den Antikatholizismus vorwiegend Nordeuropas. Dessen Ergebnisse wurden 2013 in einem Sammelband vorgelegt, der sämtliche skandinavischen Länder, die Niederlande, Großbritannien, Schottland, Deutschland und Italien behandelte. Ari Joskowicz verglich 2014 jüdische Positionen zum Antikatholizismus in Frankreich und Deutschland. [1]
Wer das alles kennt, verlangt nicht nach einer weiteren Monografie, die überdies drei Mal so dick daherkommt wie alle anderen Antiklerikalismusbücher. Auf 615 Seiten breitet Dittrich vieles davon noch einmal aus, oft sogar ausführlicher als vorher und als nötig. Angesichts etlicher hervorragender Studien zum europäischen Antiklerikalismus muss eine Neuerscheinung sich absetzen und ihr Profil herausstellen. Das ist verständlich, sollte aber nicht bis zum Limit auftrumpfender Neuigkeitsreklame getrieben werden. Freilich bietet die an der LMU bei Martin Baumeister entstandene Dissertation neue Aspekte und lohnt die Lektüre.
Die religiösen Kontexte Frankreichs und Spaniens betreffend, ist der erste von vier Hauptteilen (49-146) eine brauchbare Einführung, aber mit knapp 100 Seiten ein viel zu lang geratenes Referat. Deutschlands bekannte bikonfessionelle Religionsgeschichte seit der Säkularisation und der Kulturkampf werden nochmals seitenlang entfaltet. Das späte Ergebnis: der Antiklerikalismus sei an der Suchbewegung über die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft beteiligt gewesen (141).
Innovativer ist das zweite Kapitel (147-288). Anhand von drei Schlüsselereignissen zeigt Dittrich, wie ihre mediale Skandalisierung zu einer europäischen Öffentlichkeit beitrug: die besonders in Frankreich politisierte und dramatisierte Entführung des jüdischen Knaben Edgardo Mortara 1858 im Kirchenstaat (der sich schon Verhoeven und Joskowicz widmeten), das (unvermeidliche) Erste Vatikanische Konzil 1869-1870, als auch eine katholische europäische Öffentlichkeit entstand, schließlich die Hinrichtung Francisco Ferrers 1909 in Spanien. Der Freidenker galt als verantwortlich für die "Tragische Woche" in Barcelona, einem anarchischen Generalstreik, der zur Zerstörung etlicher Kirchen und zu Todesopfern führte.
Dittrich unterscheidet fünf Konfliktfelder der Säkularisierungskämpfe (289-429): die Delegitimierung alter und Legitimierung neuer Macht, epistemologische Deutungsdebatten über Offenbarungs- versus Vernunftwahrheit, Fragen des Glaubens, denn Antiklerikale waren nicht notwendig areligiös, Zweifel an der Moral sinnenfreudiger Kleriker und schließlich Zeit, insofern der Kirche die Vergangenheit, der Freiheit die Zukunft gehöre. Antiklerikalismus, so das Fazit, war keine Reaktion auf die Säkularisierung, sondern ihr aktiver Träger (423, 492).
Das vierte Kapitel (431-490) erarbeitet Formen und Dynamiken des Diskurses. In Anlehnung an Shulamit Volkovs These vom Antisemitismus als kulturellem Code wird der vornehmlich antikatholische Antiklerikalismus, wie schon von anderen vorher, als "kultureller Code" angesehen. Weder gesellschaftlicher Konsens, noch eigenständiges Weltbild, diente er dem inkohärenten "antiklerikalen" Lager klassen- und konfessionsübergreifend als Verständigungszeichen. Noch nicht einmal zur Selbstbezeichnung taugte er, vielmehr funktionierte er nur über sein polysemantisches Antonym "Klerikalismus". Das zeigt die klug angelegte Begriffsgeschichte (435-448). Zu korrigieren wäre nur, dass "clérical" und "anticlérical" nicht erst in den 1850er-Jahren auftauchten (445f.) und das Substantiv "cléricalisme" nicht erstmals 1863 (443). Tatsächlich sind die Neologismen "cléricalisme", "anticlérical" und "anticléricalisme" rund 20 Jahre früher belegbar. Aus Leopold von Rankes Adjektiv "anticlericalisch" in seiner Reformationsgeschichte 1839 wurde im Englischen 1845 "anticlerical". [2] Ferner verfolgt die Autorin unterschiedliche Tonlagen des Antiklerikalismus, der in Spanien und Frankreich besonders schrill auftrat. Schließlich deutet sie Karikaturen als Verdichtungen dieses Codes - angeblich "anders als in bisherigen Untersuchungen" - verschränkt mit dem Diskurs (479). Tatsächlich interpretierte schon Borutta 40 (Dittrich 26) solche Karikaturen als Manifestationen antiklerikaler Dichotomien.
Eine Pointe der Arbeit ist, nicht nur den europäischen Antiklerikalismus, sondern auch das antiklerikale Europa zu beleuchten: Der im europäischen Rahmen transnational zirkulierende, stark verflochtene Antiklerikalismus war ein Konstrukteur des zivilen Europas (18f.). Zunehmend wurde das europäische Gewissen beschworen, wurde Europa durch die antiklerikale Teilöffentlichkeit als Appellationsinstanz installiert (24, 277) gegen das barbarische, mittelalterliche Kirchenregime.
Dieser emanzipatorische Machtanspruch und Zivilgesellschaftsentwurf machte Europa auch zur Ausgrenzungsgemeinschaft. Spanien, "inquisitorisch" und "schwarz", wurde als klerikal und uneuropäisch geächtet. Die Exotisierung machte es den spanischen Antiklerikalen schwer, sich vorbehaltlos gegen den Klerikalismus und mithin gegen die eigene Nation und für dieses Europa zu artikulieren. Die Europabezüge gingen durch nationale Filter und stärkten nationale Unterschiede. Die Auseinandersetzung mit dem transnationalen Ereignis Unfehlbarkeitsdogma schärfte die protestantische Vorstellung von der deutschen Nation.
Der Vergleich zeigt: In Frankreich stieg der Antiklerikalismus von einer Oppositionsbewegung der Julimonarchie und des Zweiten Kaiserreichs seit 1877 zu einem Kernelement der Zweiten Republik auf. In Spanien blieb er stets oppositionell, vom Sexenio (1868-1874) abgesehen. Da unter der neuen Bourbonenherrschaft Liberale und Konservative 1876 abgesprochen hatten, sich nach dem Prinzip des "Turno" an der Regierung abzuwechseln, blieben die Republikaner von der Regierung ausgegrenzt. Sie verbanden sich mit Sozialisten und Anarchisten in einer Art antiklerikalen Opposition mit signifikant hoher Gewaltneigung. In Deutschland verkomplizierte und dämpfte die konfessionelle Bipolarität die Situation. Das Fehlen eines starken Republikanismus - als Bindeglied zwischen bürgerlichen Liberalen und Sozialisten - erklärt die eher moderate Ausprägung des Antiklerikalismus. Der gegen Protestanten und Pastoren gerichtete Antiklerikalismus wird wieder einmal vernachlässigt.
Das Buch ist spannend geschrieben, verzehrt aber viel Lesezeit. Leider hat sich die Autorin der notwendigen Mühe entzogen, ihre Doktorarbeit um etwa die Hälfte zu kürzen, insbesondere wo sie Altbekanntes redundant referiert, gar passagenweise Eigenredundanzen herstellt, indem sie alles "noch einmal vertiefend" neu arrangiert (454, vgl. "noch einmal": 186, 200, 215, 334, 385, 431, 474f.), um scholastisch in unnötige Feindifferenzierungen abzuirren. Allein Einleitung und Schluss kommen auf 70 Seiten - vom Satzspiegel ein ganzes Reclambuch. Hier hätte ein verantwortliches Lektorat auf massive Kürzungen bestehen müssen. Einem sorgfältigen Korrekturdurchgang wäre vielleicht auch aufgefallen, dass das Allgemeine Landrecht nicht 1894 (119), sondern 1794 entstand und der Syllabus nicht 1863 (311), sondern 1864.
Die mit dem Max-Weber-Preis ausgezeichnete Studie belegt ergiebig die Ideale und Verflechtungen der Antiklerikalen in drei Ländern. Darüber hinaus befruchtet sie die Debatten über die transnationale Öffentlichkeit sowie über frühsäkulare Europavorstellungen. Das eiligen Lesern herzlich empfohlene Fazit (491-512) fasst auf 22 Seiten die Fülle der Beobachtungen und Thesen der gesamten Arbeit konzise zusammen.
Anmerkungen:
[1] Manuel Borutta: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2011 (2. Aufl.); Timothy Verhoeven: Transatlantic Anti-Catholicism. France and the United States in the Nineteenth Century, Basingstoke 2010; Yvonne Maria Werner / Jonas Harvard (eds.): European Anti-Catholicism in a Comparative and Transnational Perspective, Amsterdam / New York 2013; Ari Joskowicz: The Modernity of Others. Jewish Anti-Catholicism in Germany and France (= Stanford Studies in Jewish History and Culture), Stanford 2014. Auch die Werke von Michael B. Gross: The War against Catholics. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany, Ann Arbor 2004, der Geschlecht zum Faktor des bürgerlichen Antikatholizismus erklärte, sowie von Christopher Clark / Wolfram Kaiser: Culture Wars. Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europe, Cambridge 2003, prägen weiterhin die Diskussion.
[2] Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 1, Berlin 1839, 267; ders.: History of the Reformation in Germany, Bd. 1, London 1845, 290.
Olaf Blaschke