Detlef Pollack / Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich (= Schriftenreihe "Religion und Moderne"; Bd. 1), Frankfurt/M.: Campus 2015, 542 S., ISBN 978-3-593-50175-8, EUR 39,90
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Einen besseren Eröffnungsband für die Reihe "Religion und Moderne" hätte sich das Centrum für Religion und Moderne in Münster nicht wünschen können. Die Münsteraner Religionssoziologen legen mit ihren Definitionsangeboten von Religion und Moderne die Grundlage für weitere Bände (25-85). Sie rekapitulieren die Definitionen von Religion und kombinieren sie miteinander. Für ihr funktionales Bezugsproblem, die Kontingenz, stellt Religion Formen der Bearbeitung bereit, deren Spezifik, etwa die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz, als substantielle Seite analysiert wird.
Zweitens ist der Band ein leidenschaftliches Plädoyer für nüchterne Empirie, für quantitative statt qualitative Forschung in der Säkularisierungsfrage. Um diesen Ansatz können Historiker, denen entsprechende Daten für die Zeit von 1750 bis 1970 fehlen, Soziologen nur beneiden.
Drittens generiert der Band Regelwissen. Am Bedeutungsrückgang von Religion - dies ist die Hauptthese gegen die zunehmende Kritik an der Säkularisierungstheorie - lässt er keinen Zweifel. Die Wiederkehr der Götter bleibt aus. In stringenter Beweisführung wird betont, dass die Moderne, dass funktionale Differenzierung in der Regel zu einem Relevanzverlust von Religion führt, während Entdifferenzierung Religion nützt.
Alle bisher bekannten Säkularisierungsthesen werden thesenstark vorgestellt, sortiert und ausgewogen diskutiert. Die meisten Thesen anderer erleiden dann aber das Schicksal, verworfen zu werden. Am schwersten haben es die Individualisierungsthese und die Markttheorie: Individualisierung fördere Religion nicht, sondern schade ihr; und religiöser Pluralismus heize nicht den Wettbewerb an, sondern umgekehrt, religiöse Homogenität fördere die Religion. Eine bessere Summe der Säkularisierungsthesen samt empirischer Prüfung kann man nicht kriegen.
Überzeugend ist schließlich, dass nicht nur Westdeutschland obduziert wird, sondern auch Ostdeutschland, Italien, die Niederlande, Polen und Russland in seinem vermeintlich orthodoxem Frühling (89-436). Ferner werden globalgeschichtliche Perspektiven auf die USA geworfen, die fälschlicherweise oft als Gegenbeispiel für den Konnex von Moderne und Säkularisierung herhalten müssen, sowie auf Südkorea und Brasilien. Allerorten belegen die Datenreihen einen Bedeutungsverlust von Religion, der mit der funktionalen Differenzierung besser erklärt werden kann als mit alternativen Modellen wie der Individualisierungs- und Marktthese, der Distraktionsthese (Ablenkung durch Freizeit) oder der Absorptionshypothese (Aufsaugen des Religiösen durch nichtreligiöse Interessen).
Nun fallen aber zwei Unwuchten des Buches auf. Die erste Unwucht betrifft den anvisierten Leserkreis. Für wen ist es eigentlich gedacht? Für alle am Thema Religion und Moderne Interessierte oder nur für zwei Dutzend Kollegen in aller Welt, die auch schon Jahrzehnte an dem Thema arbeiten? Auf den ersten zweihundert Seiten erkennt der Kundige vieles von dem wieder, was Religionsforscher sagen müssen: "Religion" wird erwartungsgemäß genau und überraschend breit nochmal erklärt. Abgehängt wird der Normalleser in Kapitel 13 (437-457), wo auf einmal 54 Länder gleichzeitig analysiert und Daten in eine Mehrebenen-Modellrechnung eingespeist werden, um aus diversen Varianzkomponenten den "Intraklassenkorrelationskoeffizienten" zu berechnen. Wie hängen Gottesglaube und GINI-Koeffizient für soziale Ungleichheit zusammen? Wurde anfangs in Handbuchsprache für jedermann anschaulich erklärt, was Religion und was Moderne ist, kämpft man nun mit esoterischer Statistikersprache und dem "Intraklassenkorrelationskoeffizienten". So zerreißt diese Spannung das Buch. Der eine Teil ist perfekt für Einsteiger, aber für Experten unnötig lange Einstiegsliteratur, der andere Teil perfekt für Experten, aber für Einsteiger unwirtlich dröger Expertenjargon. Man taumelt zwischen Unterforderung und Überforderung. Das brillante Fazit (458-485) bietet eine pointierte Zusammenfassung aller Befunde.
Die zweite Unwucht resultiert aus dem Anspruch auf Regelwissen über die Moderne insgesamt bei einer empirischen Belastbarkeit für höchstens die letzten 50 Jahre. Gilt das Regelwissen tatsächlich für die Moderne oder nur für heute? Der Geltungszeitraum wird nirgends genau eingegrenzt, aber die vermeintlich homogene Vormoderne der differenzierten Moderne entgegengesetzt (33f.). Vor 300 Jahren hätten die Menschen in Zeiten der Knappheit, der Krankheit und Abhängigkeit gelebt. In der produktiveren, funktional differenzierten Gesellschaft sei eine einheitliche Weltinterpretation nicht mehr möglich. Verlässliche Datenreihen für Europa lägen aber nur für die letzten 30 Jahre vor (92). Wann beginnt dann die Moderne? Vor 300 oder vor 30 Jahren oder irgendwo dazwischen, um 1800 mit der "Sattelzeit" oder um 1960 mit dem Durchbruch der Konsumgesellschaft?
Empirisch gewonnenes Regelwissen wirft die Frage auf, ob es auch für die Zeit vor 1960 gilt. Möglicherweise gab es dort versteckte Basisfaktoren, die längst keine Rolle mehr spielen, folglich in den Umfrage-Datensätzen nicht vorkommen. Die Datengrundlagen reichen nur wenige Jahrzehnte weit zurück, im World Value Survey und in der European Values Study bis 1981, im Mannheimer Eurobarometer immerhin bis 1970. Angesichts des modernen Ausdifferenzierungsprozesses seit dem späten 18. Jahrhundert erfasst der kurze Zeitausschnitt kaum ein Fünftel der gesamten Epoche. Historiker nennen das neuere / neueste Zeitgeschichte. Sie müssen sich um die restlichen 80% der Moderne kümmern. Indes fehlen ihnen leider dieselben Daten. Immerhin haben sie Erhebungen über den Kirchenbesuch. Die reichen bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Doch Vorsicht! Kann man aus diesen Oberflächenphänomenen stets auch Religiosität ableiten? Man musste in der Dorfgemeinschaft oder angesichts des strengen Gutsherrn in der Kirche erscheinen, weil man sonst sozial exkludiert worden wäre. Kirchenbesuch mag für die letzten 30 Jahre ein erstaunlich guter Indikator für religiöse Praxis sein (117), nicht aber für die letzten 300 Jahre. Wann wurde das, was hier als Indikator gilt, zum Indikator? Historiker müssen auf die Historisierung von Daten, Begriffen und Kontexten drängen:
1. Die charmante Hauptthese der Korrelation von funktionaler Differenzierung mit Säkularisierung bleibt intellektuell stimulierend. Religion sei auf Entdifferenzierung angewiesen, auf die Einbettung in andere Teilsysteme, wie man anhand der Säulen in den Niederlanden sehen könne. Dagegen führe die funktionale Autonomie von Religion nicht zur Ausbildung vitaler Religionsformen.
Nun bildeten sich die Säulen in den Niederlanden aber erst um 1900, mitten in der Differenzierung und nach der religiösen Wiederbelebung. Diese wurde gerade durch die Säkularisationsmaßnahmen sowie den aufgeklärt-absolutistischen Bürokratismus in Europa angestoßen. Die neue Autonomie der Religion löste eine ungeahnte religiöse Renaissance aus. Das Regelwissen trifft für das frühe 19. Jahrhundert nicht zu. Oder ist das noch die Vormoderne? "In vormodernen Gesellschaften sind religiöse Lehren und Praktiken auf eine selbstverständliche und unbezweifelbare Art gültig, in modernen Gesellschaften bedürfen sie der Legitimation" (482). Ab wann wiederum gilt das? Religiöse Lehren und Praktiken wurden immer wieder, im 13. Jahrhundert durch die Bettelorden, im 16. Jahrhundert durch die Reformation, angegriffen. Das provozierte Legitimationsdruck bei den Hütern von Lehren und Praktiken. Um 1850 setzte sie die Religionskritik erneut unter Legitimationsdruck. Die Moderne lief als funktionale Ausdifferenzierung auf Hochtouren - zugleich aber auch die Religion. Weltweit setzte sich eine religiöse Renaissance und Uniformierung von Orthodoxie und Orthopraxie durch, wie Christopher Bayly betonte.
2. Das Wettbewerbsmodell könne empirisch nicht nachgewiesen werden. Mehr Pluralismus führe nicht zu mehr religiösem Vitalismus (237). Im Gegenteil: Wo eine Konfession in der Mehrheit ist, liege der Kirchgang über dem Niveau von Regionen, in denen sie in der Minderheit liege (122). Das mag für heute stimmen. Dabei wird aber ein Faktor übersehen, der vor 1960 eine eminente Rolle spielte: das religiöse Ressentiment. Heute gehört es sich nicht mehr, offen Vorurteile gegenüber anderen Religionen zu äußern. Man benimmt sich zivilgesellschaftlich tolerant und respektiert alle umliegenden Religionen.
Um 1900 jedoch waren Religion und Ressentiment eng aneinander gekoppelt. In gemischtkonfessionellen Regionen nährte Pluralität Religion. Papisten und Ketzer misstrauten sich leidenschaftlich. Diasporadekanate und konfessionelle Grenzorte wiesen überproportional hohe Abendmahlsfrequenzen von 170% auf, wie Werner K. Blessing für Unterfranken, die Oberpfalz und Niederbayern - empirisch - nachweisen konnte. Das bestätigen auch Manfred Kittel für Westmittelfranken oder Thomas Fandel für die Pfalz. Der Pauschalzusammenhang von Pluralismus und Religion muss historisiert werden.
Vielleicht galt für lange Strecken der Moderne genau die umgekehrte These: Wo Konfessionen in der Minderheit waren und sich gegenseitig verachteten, erzeugten sie dank des ressentimentschweren Neo-Konfessionalismus hohe religiöse Vitalität mit starkem, auch politischem Mobilisierungspotential. Die Wettbewerbsthese mag für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gescheitert sein, aber nicht überzeitlich.
Soziologen sind an Regelwissen interessiert, betonen die Autoren. Dessen international synchrone Reichweite haben sie wasserundurchlässig demonstriert. Doch welche diachrone Geltung hat dieses Regelwissen? Weist sie über die vergangenen 30 bis 50 Jahre hinaus? Vielleicht dürfen wir die Relevanz und Homogenität von Religion in der Vormoderne nicht überschätzen und in der Moderne nicht unterschätzen.
Olaf Blaschke