Calder Walton: Empire of Secrets. British Intelligence, the Cold War and the Twilight of Empire, London: HarperCollins 2013, XXXII + 411 S., 33 s/w-Abb., ISBN 978-0-00-745796-0, GBP 25,00
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Nach den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Paris sorgte die BBC bei manchen Kommentatoren für Stirnrunzeln. Das Flaggschiff des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wollte die Täter nicht als Terroristen apostrophieren. Dieser Begriff sei politisch zu stark aufgeladen, und schließlich hätten auch die Vereinten Nationen größte Schwierigkeiten damit, präzise zu definieren, was ein Terrorist eigentlich sei. [1] Gleich, ob es sich bei dieser Argumentation der BBC um einen Fall geschmäcklerischer linguistic correctness oder terminologischer Sorgfalt handelt: Dass Großbritannien eine besondere Sensibilität im Umgang mit Terrorismus offenbart, hängt zweifellos mit dem imperialen Erbe des Landes zusammen. Calder Walton hebt in seiner fulminanten Studie über die Rolle der britischen Geheimdienste beim Abschied vom Empire plastisch die Bedeutung terroristischer Anschläge für die Entfaltung des modernen Sicherheitsstaats hervor. Dabei kann er auf eine erste Tranche von Dokumenten zurückgreifen, die als verloren galten, in Wahrheit jedoch in Hanslope Park lagerten und erst aufgrund eines High-Court-Urteils 2012 der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Das auf Hochglanz polierte Bild einer nahezu reibungslosen Trennung von den kolonialen Besitzungen des Königreichs hat seither weitere Kratzer erhalten. Walton betont ein ums andere Mal, dass die Lernfähigkeit westlicher Regierungen auf dem Terrain internationaler Sicherheit begrenzt gewesen sei. In seinen Augen waren es die Geheimdienste, die Konflikte im Prozess der Dekolonisation bisweilen zu entschärfen vermochten, während die politisch Verantwortlichen zu Gefangenen ihrer antikommunistischen Stereotypie wurden.
Walton rekapituliert zunächst die Geburt geheimdienstlicher Tätigkeit aus dem Geist des Great Game, das Großbritannien seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Indien aus gegen Russland in Stellung brachte. Zahlreiche Pioniere des MI5 und des SIS hatten auf dem Subkontinent ihr Handwerk gelernt, und nach 1947 setzte die Kooperation zwischen den britischen Diensten und der Regierung in Delhi Maßstäbe bei der postimperialen Perpetuierung alter Bande im Sicherheitsbereich. Während des Zweiten Weltkriegs liefen die britischen Geheimdienste zu Hochform auf. Walton spart hier nicht mit Superlativen aus der Mantel-und-Degen-Welt. Die Agenten der freien Nationen seien denen der Achsenmächte vor allem bei der Auswertung von Informationen überlegen gewesen. Dass die britischen Dienste viele Mitarbeiter aus den unwahrscheinlichsten Professionen rekrutieren mussten, lässt Walton das Hohelied des Amateurkults anstimmen. Nach 1939 schlug die Stunde der Spezialeinheiten SOE (Special Operations Executive) und SAS (Special Air Service), welche im kolonialen Ambiente dort weitermachten, wo einst Lawrence von Arabien Marksteine gesetzt hatte. Walton thematisiert freilich auch die vom angelsächsischen Positivismus begünstigte rechtliche Grauzone, in der der Sicherheitsapparat etwa mit entführten Feindagenten operierte: Die Parallelen mit den extraordinary renditions nach den Anschlägen vom 11. September 2001 drängten sich förmlich auf. Damals wie heute ziehen Geheimdienstexperten den Nutzen der euphemistisch als verschärfte Verhörmethoden drapierten Folter in Zweifel. Doch gerade in Extremsituationen, in Frontnähe oder als Racheakt nach der Tötung von Kameraden schlugen britische Agenten und Soldaten bei den Rückzugsgefechten der Dekolonisation eindeutige Befehle in den Wind und spielten so meist dem Gegner in die Hände.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte sich Großbritannien darum, die Versäumnisse in der Spionage gegen den einstigen Waffenbruder Sowjetunion rasch wettzumachen, was allerdings durch die berüchtigten fünf Cambridge-Agenten bis zu deren Flucht bzw. Enttarnung konterkariert wurde. In den Räumen der KP Großbritanniens angebrachte Wanzen lieferten zumindest wertvolle Hinweise auf die Aktivitäten nationalistischer Politiker in den Kolonien. Eine wahre Feuerprobe erlebte Großbritannien als "uneasy patron of Zionism" (81) in Palästina. Die in einem urbanen Umfeld agierenden Terroristen des Irgun und der Stern Gang, die jegliche Kompromisse mit der Mandatsmacht kategorisch ablehnten, trugen ihren Kampf bis ins Mutterland. Die Stern Gang hatte in ihrem unversöhnlichen Hass auf die Briten Ende 1940 sogar den Nationalsozialisten eine Kooperation angedient. Die britischen Behörden litten - wie auch in späteren Dekolonisationslagen - darunter, dass sie von den Vereinigten Staaten kritisch beäugt wurden, wenn sie spätkoloniale Nachhutgefechte zu provozieren schienen. Nur der wohlfeile Verweis auf eine kommunistische Unterwanderung nationalistischer Agitatoren vermochte Washington mitunter zu besänftigen. Dass einige der britischen Notstandsverordnungen, die im Konflikt mit den zionistischen Terroristen erlassen wurden, heute noch geltendes Recht in Israel sind, ist eine Pointe, die auch für andere Territorien des Empire gilt. Die Dekolonisation als "story of crisis management" (115) folgte keinem Masterplan. Zu sehr lebten die Strategen in Whitehall notgedrungen dem Augenblick und waren dabei von weltpolitischen Konjunkturen ebenso abhängig wie von den prekären Staatsfinanzen. Dass es Großbritannien dennoch gelang, in den meisten ehemaligen Territorien Security Liaison Officer (SLO) zu stationieren, selbst wenn die politischen Beziehungen zu den jungen Staaten angespannt waren, verbucht Walton auf der Habenseite der britischen Geheimdienstgeschichte.
In (Britisch-)Guyana ließ sich ein Paradebeispiel des "imperialism of decolonisation" (Louis / Robinson) studieren. Hier stürzten die amerikanischen Geheimdienste nach intensiver Wühltätigkeit 1962 den Unabhängigkeitsführer Cheddi Jagan, weil dieser im "Hinterhof" der USA angeblich sowjetischen Einflüsterungen erlegen war. Winston Churchill hatte derlei Aktionen in der an Aluminium und Bauxit reichen Kolonie bereits in den fünfziger Jahren gebilligt. Wenn es also in die antikommunistische Stoßrichtung des Weißen Hauses passte, konnten die Verantwortlichen in Washington ihre antikolonialistischen Schwüre ohne weiteres brechen. So errichteten die USA und Großbritannien an vielen Brennpunkten der Welt ein informelles Empire der Geheimdienste. Spektakuläre Erfolge - wenn auch mit langem Anlauf - zeitigte dieser Ansatz in Malaya, wo trotz umfassender Infiltration der lokalen KP tatsächlich ein kommunistisch inspirierter und zugleich ethnisch motivierter Aufstand losbrach. 1952 wurde Generalfeldmarschall Templer damit beauftragt, die Insurgenten zur Raison zur bringen. Mit mehr Vollmachten ausgestattet als jeder andere britische Militär seit Oliver Cromwell, schrieb Templer eine Blaupause für nachhaltige Terrorbekämpfung: Eine straffere Koordination der Geheimdienste, ein effizienter Einsatz der SAS, die Umsiedlung tausender Chinesen, um Chin Peng und dessen Aufständischen die Lebensader zu durchtrennen - dank dieser Strategie war Malaya in Südostasien der "domino that stood" (208).
Ebenso harsche Maßnahmen griffen in Kenia, wo das Vorgehen gegen den sogenannten Mau-Mau-Aufstand einer "bastardisation of independent police work" (258) Vorschub leistete und den Abschied vom Empire unter Premierminister Macmillan forcierte. Walton hat hier den kontrovers diskutierten Studien von Caroline Elkins und David Anderson [2] nichts Substantielles hinzuzufügen, außer dass es erneut die Geheimdienste waren, die ein realistischeres Bild von Jomo Kenyatta, dem Gottseibeiuns der lokalen Kolonialverwaltung, zeichneten als diese. Mit einer "host of dirty tricks" (288) - vom Sturz des iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh 1953 über die stümperhafte Suezinvasion 1956 bis zum geheimdienstlich legitimierten Golfkrieg 2003 - verwandelte Großbritannien für das Linsengericht kurzzeitiger Triumphe den Mittleren Osten in eine Ansammlung von failing states, die zum fruchtbaren Nährboden terroristischer Gruppierungen degenerierten. Dass der Jemen im Jahr 2015 wieder im Chaos versinkt, muss auch auf das Kerbholz einer gescheiterten Dekolonisation Adens in den späten sechziger Jahren geritzt werden. Das Versagen geheimdienstlicher Aufklärung resultierte dort in Folterexzessen, die Walton - ein bekanntes Wort Samuel Johnsons abwandelnd - als "last refuge of the ineffectual" (324) brandmarkt.
Ohne die Geschichte der Dekolonisation neu zu schreiben, gelingt es Walton mit seiner fesselnden Erzählung auf der Basis eines beeindruckenden Quellenstudiums, Licht ins Dunkel des geheimdienstlichen Schattenreichs zu werfen. Dass gerade MI5 und SIS oft über luzidere Einsichten in den verschlungenen Prozess antikolonialen Aufbegehrens verfügten, hätte Walton zufolge in vielen Fällen zu einer gemäßigteren Politik führen können, die nicht von antikommunistischer Paranoia, frappierendem Unvermögen, mangelnder Lernfähigkeit oder self-fulfilling prophecies geprägt gewesen wäre. Andererseits garantierten gerade die Agenten Ihrer Majestät ungeachtet der formellen Unabhängigkeit zahlloser Territorien eine - unter Menschenrechtsaspekten oft fragwürdige - Kontinuität. Terroristen mutierten so bisweilen über Nacht zu diskreten Partnern im Kalten Krieg.
Anmerkungen:
[1] Vgl. http://www.independent.co.uk/news/media/tv-radio/paris-attacks-do-not-call-charlie-hebdo-killers-terrorists-says-head-of-bbc-arabic-tarik-kafala-10001739.html, 25.01.2015
[2] Vgl. Caroline Elkins: Britain's Gulag. The Brutal End of Empire in Kenya, London 2005. http://www.sehepunkte.de/2006/02/9770.html . David Anderson: Histories of the Hanged. Britain's Dirty War in Kenya and the End of Empire, London 2005. http://www.sehepunkte.de/2006/11/8237.html
Gerhard Altmann